Mein Freund, der Baum, ist tot ...


Allerheiligen im Jahre 1997: Ein herrlicher Herbstmorgen lockt mich hinaus. Reif bedeckt die Natur nach einer frostigen mondhellen Nacht. Buntes Laub knistert unter meinen Füßen, die mich in einen einsam gelegenen Ort tragen, in die „Meßmecke“.

Dieses, zwischen Gut Wenne und dem Örtchen Buemke liegende Fleckchen Erde, fasziniert mich immer wieder, seitdem ich von dem alten Hof erfuhr. Vor hundert Jahren stand er hier noch als Vorhof vom Gut Wenne, bis sein Pächter aufgab und davon ging. Nichts von dem was davon berichtet und überliefert ist wird heute mit dem forschenden Auge sichtbar. Nur ein Zeuge dieser Zeit ist erhalten geblieben: Ein riesiger, ausladender Kastanienbaum. Dort, wo damals ein Bauerngarten angelegt war, steht er nun am Wege. Imposant ist seine Erscheinung, mit mächtiger Krone auf einem kräftigen Stamm.

Erlebt habe ich dieses stattliche Naturdenkmal zu jeder Jahreszeit. Ich habe unter seinem schützenden Blätterdach gestanden und Zeit gefunden darüber nachzusinnen, wie es früher hier wohl aussah. Wenn der Baum erzählen könnte, dann wohl von spielenden Kindern, Männern und Frauen bei harter Arbeit auf dem Hof und Feld, müde Arbeiter auf dem Heimweg, von der Arbeit nach einem langen Tag in der Fabrik in Eslohe. Sie sputen sich, denn sie werden von ihren Familien erwartet, daheim in den kleinen Bauerndörfern Buemke und Buenfeld. Dort ist das Tagwerk noch nicht beendet, denn sie verdienen ein karges Zubrot mit ihrer kleinen Landwirtschaft.

Doch an diesem erwartungsvollen Herbstmorgen erschrecke ich, traue meinen Augen kaum, als ich den vertrauten Ort erreiche: Zerstört und zerschunden hat den letzten Zeugen der Vergangenheit der Herbststurm. Zerrissen und zerspalten, die eigene Last nicht haltend, ist der mächtigste Ast herabgesunken wie ein entkräfteter Arm, ermüdet vom Ausstrecken und Tragen. Seine Zeit ist zu Ende gegangen.

Ein Nebelschleier reißt unvermittelt auf und lässt gleißendes Sonnenlicht freien Lauf. Die Strahlen der Morgensonne umfängt das sterbende Geäst.

 

Meine Kamera hält es fest: Ein Bild das Hoffnung birgt. Ein Bild, das sich mit den Worten von Rainer Maria Rilke versteht: „Man muss nie verzweifeln, wenn einem etwas verloren geht, ein Mensch oder eine Freude oder ein Glück; es kommt alles noch herrlicher wieder.“
Noch konnte ich es nicht ahnen: Genau zehn Jahre später, am Allerheiligentag 2007 starb mein Vater.