Mein erster Schultag


Erlebnisse am Tag meiner Einschulung 1960

Anhang: Tante Marias Lädchen in der Papestraße

In diesen Tagen werden wieder viele Mädchen und Jungen erstmals mit dem Schulranzen auf der Schulter und der Schultüte mit allerlei Leckereien im Arm ihren ersten Schultag erleben. Damals wie heute nennt man die Kleinen „I-Männchen“. Auch ich war natürlich vor mehr als einem halben Jahrhundert ein I-Männchen. Auch wenn meine Einschulung eine gefühlte Ewigkeit her ist, ich kann mich an diesen, für mich denkwürdigen Tag, noch gut erinnern und nachvollziehen, wie aufregend dieses Erlebnis für viele Kinder ist. Auch bei meinen eigenen Kindern war dieser Tag immer  für meine Frau und mich ein besonderer.

 

Ein Stück „Loslassen“ bedeutet er für die Eltern, ein Stück „Erwachsen werden“ für die Kinder.

Ein neuer Lebensabschnitt beginnt am Tag der Einschulung für die ganze Familie. 

 

Der erste Schultag ist heute immer noch aufregend, jedoch nicht mehr so befrachtet mit der Scheu vor dem Neuen wie ich es damals erleben musste. Meine Kinder hatten bei ihrer Einschulung bereits Erfahrungen im Umgang mit anderen und viele „I-Männchen“ waren Altbekannte aus der Vorschulzeit, aus der Spielgruppe oder dem Kindergarten. Man kannte sich und war sich nicht mehr fremd, auch wenn das neue Umfeld und die neuen Bezugspersonen Respekt einflößte. Meine Situation war zur Einschulung damals – 1960 - jedoch ganz anders. 


Eine Schulklasse in früherer Zeit. 1960 fand ich in meiner Schule schon bessere Lernverhältnisse vor.  (C) DampfLandLeute-Museum Eslohe
Eine Schulklasse in früherer Zeit. 1960 fand ich in meiner Schule schon bessere Lernverhältnisse vor. (C) DampfLandLeute-Museum Eslohe

Ich wurde als erstes Kind auf den Hof meiner Eltern im kleinem Vorort Sallinghausen hineingeboren und bin dort aufgewachsen. Der Hauptort Eslohe liegt zwar nur 2000 Meter vom Dorf entfernt, doch Geschäfte, Gasthäuser, Arzt und Apotheke, Kindergarten und Schule waren für uns Dorfkinder weit und unerreichbar. Das Dorf, die Wiesen, Felder und der Wald waren unsere Spielwiese und als Bauernkinder warteten schon früh kleine Aufgaben. Wir wurden in der Nachkriegszeit behütet aufgezogen und es fehle uns eigentlich an Nichts. Das war nun auch die Meinung unserer Eltern, die es für Bauernkinder als nicht nötig empfanden, einen Kindergarten zu besuchen. Das Spielen mit den Nachbarkindern und einige wenige Verwandtenbesuche war unser Horizont und reichte nach den Vorstellungen der Eltern. Sie übersahen aber dabei, dass das Knüpfen sozialer Kontakte auch außerhalb des heimischen Herdes eine lebenswichtige Erfahrung im frühen Kindesalter ist. Und so wurde meine schon vorhandene „natürliche Schüchternheit“ noch genährt vor der Angst und Scheu gegenüber allem Fremden.

 

Der Tag der Einschulung war nun für mich, so wie für alle Kinder ein großes Abenteuer. Doch ich betrachtete ihn nicht als eine neue Herausforderung und begegnete ihm nicht in froher Erwartung. Dem Tag meiner Einschulung habe ich mit Angst und Unbehagen entgegengesehen. 

Nun war es soweit.

 

Eingekleidet mit einem neuen Lodenmäntelchen, dass Mutter bei einer Nachbarin für mich schneidern ließ, und mit der bunt glänzenden Schultüte im Arm, machte ich mich am ersten Tag in Begleitung meiner Mutter auf den Weg in die Schule. Mein Vater fuhr uns mit dem Auto dort hin und vereinbarte, uns später bei Tante Maria, die in Eslohe ein kleines Lädchen mit Rauchwaren u.a. Dingen führte, abzuholen.

Der Klassenraum war gut gefüllt. Erwartungsvolle I-Männchen mit ihren Müttern. Väter fühlten sich damals selten dazu verpflichtet, ihre Sprösslinge am ersten Schultag zu begleiten. Man hatte schließlich seine Arbeit und deswegen keine Zeit. 

 

Mutter schob mich auf den kleinen Sitzschemel hinter einem Schreibpult, dessen Patina Zeugnis mehrerer Schülergenerationen zu geben schien. Ein bedrückendes Schweigen machte sich im Klassenraum breit. Die Lehrerin, Fräulein Klara Kerkhoff, trat mit energischen Schritten und strengem Blick vor die riesige Tafel, an der Verhaltensweisen für uns Schüler und Informationen für die Elternteile in sorgfältiger Schrift aufgelistet waren. Es war eine beeindruckende Vorstellung dieser Lehrkraft, die ihre neuen Schüler in der Folge ganze vier Schuljahre als Klassenlehrerin formte. 



Ihr Vortrag endete mit forderndem Blick und den Worten: „Noch Fragen?“ Ein Räuspern im Raum und dann hörte ich zu meinem Schrecken hinter mir die Stimme meiner Mutter, die Frau Kerkhoff Mitteilung darüber zu machen glaubte, dass ihr Sohn doch sehr schüchtern sei und dass man vielleicht zu Beginn etwas Obacht auf ihn geben müsse. Ihre Sorge war zwar nicht unberechtigt, aber nicht unverschuldet. Die Reaktion kam auf dem Fuße.

Die Lehrerin forderte mich unvermittelt auf, vom Stühlchen zu erheben und nach vorn zu kommen. Mein Herz schlug mir bis zum Halse, doch ich tat brav was mir befohlen. So war ich halt erzogen. Die Augen der Mitschüler und ihrer Elternteile klebten auf mich. Ich spürte deren amüsierten Blicke und dann folgte das, was mich damals ordentlich gedemütigt hat: Frau Kerkhoff forderte mich auf, ich solle den rechten Arm über den Kopf legen und versuchen, mein linkes Ohr zu berühren. Ich hätte im Boden versinken, nein einfach wegrennen können. Doch ich tat, was mir gesagt und erreichte soeben mein linkes Ohrläppchen, als die fachkundige Aussage von Frau Kerkhoff für alle Anwesenden verkündet wurde: Sie stellte fest, dass  I-Männchen Feldmann beinahe, nur um ein Haar, schultauglich sei. Ich hatte meine erste Aufgabe wohl mit der Note 4 – ausreichend – erledigt und durfte mit hochrotem Kopf, meinen Sitzplatz einnehmen.

Die Eltern wurden nun fortgeschickt und Mutter erklärte mir hastig zum wie vielten Male, dass sie bei Tante Maria auf mich warte und ich nach Schulschluss, der an diesem Tage nicht lange weilte, den Weg durch die Kupferstraße hinein in die Papestraße nehmen und dabei aufpassen solle. Sie meinte den mir nicht gewohnten Straßenverkehr, der damals mit dem heutigen in keiner Weise vergleichbar war. Doch die eigentliche Gefahr stellte sich dann für mich in anderer Weise heraus. 

Ein paar Tage nach meiner Einschulung 1960 entstand dieses Foto.
Ein paar Tage nach meiner Einschulung 1960 entstand dieses Foto.


So machte ich mich nach Schulschluss, wie vereinbart, allein auf den Fußweg in Richtung Tante Marias Lädchen. Es war eine ungewohnte Situation für mich auf fremdem Terrain und bald konnte ich eine neue Erfahrung machen. Das Leben erteilte mir eine neue Lektion, auch außerhalb des Schulgebäudes:  Auf halbem Wege trat mir ein stämmiger Bursche, etwas älter wie ich, entgegen. Er baute sich vor mir auf und sein frech grinsendes Gesicht, sommersprossig und rotschopfig, ließ nichts Gutes erahnen. Ich hatte wohl sein Territorium verletzt, denn er forderte eine Erklärung darüber, was ich hier wohl zu suchen habe. Er habe mich hier noch nie gesehen und kenne mich nicht. Und ohne meine Antwort abzuwarten drohte er mir: „Willst du Dresche haben?“

 

Natürlich wollte ich das nicht, und so nahm ich meine Beine in die Hand und machte mich rasch wie möglich aus dem Staub. Mit klopfendem Herzen trat ich in Tante Marias Laden ein und konnte meine Aufregung nicht verbergen. „Das war Heiner von nebenan. Der ist so, tut aber keinem was.“ Damit war für sie die Sache erledigt, für mich aber lange nicht. Ich habe diesen Jungen in meinem späteren Leben immer mal wieder getroffen. Doch ich muss zugeben, dass ich dennoch nach so langer Zeit kein Verlangen nach einer längeren Unterhaltung mit ihm hatte. Für mich ein Beweis mehr, dass der Mensch in den ersten Jahren seines Daseins auf die eine oder andere Weise besonders geprägt wird und oft bis ins hohe Alter damit zu schaffen hat. 

 

Auch wenn meine Erlebnisse zu Beginn der Schulzeit nicht gerade aufbauend waren und dazu beigetragen haben, dass ich nie der lauteste und dominanteste Schüler in meiner Klasse war. Ich war dennoch einer, der von seinen Mitschülern akzeptiert und unterstützt wurde. Noch heute habe ich Kontakt zu einigen, die so wie ich am Tag meiner Einschulung einen neuen Lebensweg beschritten. 


Tante Marias Lädchen in der Papestraße

Am 4.4.1831 wurde der Jurist u. Schriftsteller Joseph Pape in diesem Haus in Eslohe geboren.
Am 4.4.1831 wurde der Jurist u. Schriftsteller Joseph Pape in diesem Haus in Eslohe geboren.

Meine Tante Maria war eine Schwester meines Vaters, verheiratet mit Albert Scherer, ein gebürtiger Rheinländer. Er war mein Patenonkel. Über vierzig Jahre bekleidete er das Amt des Kirchenküsters in der Pfarrkirche St. Peter u. Paul in Eslohe. Unmittelbar gegenüber der Pfarrkirche steht das Papehaus. Dort im Erdgeschloss befand sich die Wohnung des Küsters und im Obergeschoss wohnte der Organist Paul König.  Unten, links vom Eingang, war ein kleines Ladengeschäft, das Scherers 1956 von Olga Schulte übernahmen.  Nur von außen wies ein bescheidener Schaukasten darauf hin, dass es hinter den blanken Scheiben etwas zu kaufen gab. Doch was Onkel und Tante, die  dieses Lädchen noch bis zum Jahresende 1989 betrieben, alles im kleinen Ladenraum untergebrachten, war phänomenal. 

 

Die Auslagen in der Theke und in den Regalen war sehr vielseitig:  Gebetbücher, Rosenkränze und Kerzen, Krippenfiguren, Reiseandenken, "Stabelstöcke" (Wander-stöcke), die dazu gehörigen Andenkenschildchen mit dem Esloher Wappen für die Feriengäste. Auch jede Woche im Angebot und beim Kirchenvolk geschätzt war  die in der Diözese Paderborn allseits bekannte Kirchenschrift "Der Dom". Liebhaber des blauen Dunstes und Pfeifenenthusiasten gehörten ebenso zur Stammkundschaft, denn ihnen bot sich eine besonders reichhaltige Auswahl an Tabakwaren und Raucherutensilien.

 

Entgegen dem rheinischen Frohsinn meines Patenonkels gab sich Tante Maria immer etwas reserviert, ja scheu. Grund, ihr Haus zu verlassen, sah sie nur in der Notwendigkeit zum raschen Einkauf in den nur eine Straße weiter gelegenen Geschäften, für den Kirchgang und zum Spaziergang am Sonntag, meistens in ihr Elternhaus, unserem Hof in Sallinghausen.  Ein Auto besaßen Onkel und Tante nicht und ich vermute, dass sie es auch nicht vermissten. Die neuesten Nachrichten aus ihrem Umfeld  wurden ja wie die Waren die sie verkauften, frei Haus angeliefert.  Ein kleines Schwätzchen gehörte zur Selbstverständlichkeit und so war Tante Marias Lädchen ein Umschlagplatz für neue Nachrichten im Dorf. 

 

Wenn wir Kinder im Papehaus zu Besuch waren, steckte Tante Maria uns immer eine Kleinigkeit in die Tasche und tat dabei immer ganz geheimnisvoll, als dürfe es sonst keiner wissen. Das war so ihre eigene Art, an die wir uns heute noch oft amüsiert erinnern.  Es war eine besondere Atmosphäre im Papehaus, nostalgisch in vielerlei Hinsicht. So erinnern sich oft auch manche Esloher Einwohner  mit etwas Wehmut an den kleinen Laden in der Papestraße und an Tante Maria und Onkel Albert . 


Bildnis Joseph Pape
Bildnis Joseph Pape

Zu Leben und Werk von Joseph Pape

(Ausschnitt aus der Veröffentlichung von Peter Bürger "Joseph Pape als Theologe)

 

Joseph Pape wurde am 4. April 1831 im Schatten der Esloher Pfarrkirche St. Peter und Paul geboren. Der Dichter sieht es später als einen besonderen Gunsterweis de Schicksals an, das Licht der Welt zuerst an einem Ostertag erblickt zu haben.  

Papes Mutter Anna Maria Katharina Agatha, geb. Simon aus Allendorf (1799-1858) bangt schon bei der Geburt des einzigen Kindes um den Vater, den Landwirt und Kirchenrendanten Franz Ferdinand Pape (1800-1831). Dieser stirbt am 24. Oktober, ein halbes Jahr nach der Geburt des kleinen Josephs, an der Auszehrung. Das Anwesen der Eltern, zu dem das heutige "Pape-Haus" mit Gedenktafel gehört, wird verkauft. Anna Simon findet mit ihrem Sohn Aufnahme beim Esloher Pfarrer Josef Cramer /1785-1841), ihrem Onkel. Schon vor der Eheschließung hatte sie dessen Haushalt betreut. 

Pastor Cramer ist eine aufgeklärte Priesterpersönlichkeit mit Sinn für das Praktische wie für die schönen Künste. Sein Vikar C.A. Hesse schreibt über ihn, nicht ohne kritischem Unterton: "Cramer war ein rühriger und unternehmenslustiger Mann. Sein Hauptverdient um die Gemeinde ist die Wiederherstellung der Ordnung beim Gottesdient, die vor ihm sehr in Verfall geraten war... " 

Der Pastor wurde für den Halbweisen Joseph Pape somit Pflegevater und Vorbild zugleich. Peter Bürger schreibt weiter: Abends las er (der Pastor) in der Hausgemeinschaft des Pastorats aus seinen Dichtungen vor. Das Pflegekind lauschte diesem Menschen der Poesie. "Die Begegnung mit solch lebendig sprudelndem Quell der Phantasie drückte sich tief in die empfindsame Seele" des noch jungen Joseph Pape (Grimme-Welsch 1980, 293).  

 

Ich empfehle zur weiteren Lektüre das Buch von Peter Bürger. Der Herausgeber ist das DampfLandLeute-Museum in Eslohe. Es erschien 1998 im Eigenverlag des Museums.