Die Deichmanns - Eine Familiengeschichte


Mein Fotobuch zum Thema 2018
Mein Fotobuch zum Thema 2018

Die Lebensgeschichte meines Großvaters Julius Deichmann war mir stets fremd, ebenso wie die seiner, und somit auch meiner Vorfahren mütterlicherseits, namens Deichmann. Sogar Mutter schrieb: „Über die Großeltern väterlicherseits ist mir nicht viel bekannt.“ Aber von der großen Familie ihrer Mutter, also meiner Großmutter, namens Flock, die im sauerländischen Ort Nuttlar in der Gemeinde Bestwig lebte, hat sie oft erzählt und lange Kontakt dorthin gepflegt. Warum der aber kaum zu den Verwandten in Soest bestand, war mir stets ein Rätsel. Den viel zu frühen Tod ihres Vaters hat sie dann und wann beklagt. Auch dass es diesem nicht vergönnt war, seine Enkelkinder kennenzulernen, war ihr ein Betrübnis. 

 

In Mutters Tagebüchern steht nicht viel Erhellendes, gar Widersprüchliches von Großvater und dessen Vorfahren. Es helfen zwar die kleinen Erinnerungsbrocken, die sie gelegentlich in ihren Erzählungen ausstreute, aber erst die – wenn auch spärlichen – Unterlagen, die meine Kusine Theresa wie einen Schatz hütete und mir nach Mutters Tod 2017 zukommen ließ, schaffen etwas Licht ins Dunkel dieser Familiengeschichte. 

 

„Wer seine Ahnen versteht, der versteht auch sich selbst.“

 

Es war für mich ein Stück Trauerarbeit – so sehe ich es heute - , daraus ein Bild zu puzzeln von der Geschichte der Deichmanns und vom dem viel zu kurzen Leben meines Großvaters Julius. Er war wohl ein Mensch, der vieles für sich allein entschied. Er war in vielem unergründlich, sogar für jene, die ihm am Nächsten standen. Warum nun dieser Versuch, seine Lebensgeschichte zu erforschen? Die Antwort ist simpel und einleuchtend zugleich: „Wer seine Ahnen versteht, der versteht auch sich selbst.“ 

Es geht darum, die Lebensleistung eines Vorfahrens zu ergründen, dessen menschliche Eigenschaften und Anlagen, Stärken, aber auch Schwächen, auch mich als Mensch ausmachen. Meine Mutter hat mir immer erzählt, wie ähnlich ich ihrem Vater sei und dieses nicht nur in meinem Aussehen, auch in meiner Art und Weise, wie ich agiere, Aufgaben löse und Probleme anpacke. Großvaters Gene wirken in mir, meinen Kindern und Enkelkindern. 

 

Der Name „Deichmann“

 

 

Was hinter dem Namen Deichmann steckt und dessen Ursprung lässt sich unschwer erahnen. Er stammt naturgemäß aus dem Norden Deutschlands, dort wo das Land vom stürmischen Meer geschützt werden muss. Seit Jahrhunderten kämpfen die Menschen um ihr Land, das sie mit mühsamer Arbeit der Nordsee abgerungen hatten. 

 

Große Sturmfluten trafen immer wieder mit aller Gewalt die an der Küste siedelnden Menschen. Zigtausende ließen in den Fluten ihr Leben. Die unzähmbare Kraft zerstörte die Deiche und das Meer holte sich immer wieder große Teile des Festlandes zurück. 

 

„Wer nicht deichen will, muss weichen“. Dieser Ausspruch ist eine seit Jahrhunderten bestehende Erkenntnis und hat noch heute seine Gültigkeit. Stets pflegten die Küstenbewohner der Wattküsten uralte Techniken, um der Nordsee Land abzutrotzen. Es ist ein nicht endender Kampf gegen die Kräfte der Erosion. Mit Bewunderung blickt man noch heute auf die Leistungen der Deichbauer und Deicharbeiter früherer Zeiten. Mit einfachsten Mitteln und heute kaum vorstellbarer körperlicher Leistung, witterungsbedingt nur in den Sommermonaten, wurden die Deiche von Menschenhand aufgebaut. Gleichsam mussten bestehende Deichanlagen ständig ausgebessert und gepflegt werden. Der Deichgraf musste darüber wachen. Das gilt auch heute noch in gleicher Weise für den modernen Küstenschutz. 

Unsere Vorfahren konnten ihren Namen „Deichmann“ mit Stolz tragen. Dahinter steckte das Bewusstsein, von Vorfahren abzustammen, die ein hartes und gefahrenvolles Leben zu meistern hatten und die sich in einem ständigen Kampf mit den Elementen befanden. Ihre Aufgabe und ihr Kampf war für das Überleben ihrer Familien grundlegend. Eine einfache Formel bringt es auf den Nenner: „Kein Deich – kein Land – kein Leben


Mein Ur-Ur-Großvater Julius war Steinmetz

 

Wie der Nachname Deichmann bereits andeutet, liegen die Ursprünge, liegen die Wurzeln der Familie an der Küste. Meine Mutter erwähnte, dass ihr überliefert wurde, die Vorfahren ihres Vaters seien einst auf einer Hallig inmitten der Nordsee gewesen. Das aber scheint mehr als eine Legende zu sein, begründet sie sich doch aus Erzählungen verschiedener Mitglieder der Familie. 

 

Die Aufzeichnungen meines Großvaters zum Nachweis der arischen Abstammung beginnen jedoch erst mit der Nachricht, dass der Ur-Ur-Großvater Julius Deichmann (1), also der Großvater meines Großvaters, bereits in der alten Hansestadt Soest geboren wurde. Das war am 26. September 1840. Der norddeutsche Ursprung der Familie liegt wohl einige Generationen weiter zurück und kann nicht durch schriftliche Nachrichten aus der frühen Vergangenheit nachgewiesen werden. 

Die Wiesenkirche in Soest
Die Wiesenkirche in Soest

Mein Ur-Ur-Großvater war von Beruf Steinmetz. Er betrieb ein Handwerk, welches in der Gegend nicht ungewöhnlich war. Südlich von Soest wird Grünsandstein abgebaut, ein Baustoff, der typisch ist für die Soester Stadtarchitektur. Vornehmlich wurde dieser in den norddeutschen Raum geliefert. Auch die 700 Jahre alte evangelische Wiesenkirche in Soest wurde aus diesem grünen Stein erbaut. Ihre, die Soester Stadtsilhouette prägenden Türme, wurden aber erst im späten 19. Jahrhundert errichtet. Obwohl bereits 1840 die dafür notwendigen Gelder vom Preußenkönig zur Verfügung gestellt wurden, begann der Ausbau erst 1861 und kam 1874/75 zum Abschluss. Wohlmöglich war mein Ur-Ur-Großvater an der Errichtung der Türme beteiligt. 

 

Julius Deichmann heiratete die zwei Jahre ältere Soesterin Lisette Schäfer, die am 30.8.1838 geboren wurde und am 3.11.1892 auch hier verstarb. Sie überlebte ihren Ehemann um viele Jahre, denn Julius starb bereits im Alter von 38 Jahren. Sein Todestag ist der 26.2.1879. Unbekannt ist, wie viele Kinder die Eheleute hatten. Ihr Sohn Julius Deichmann (2), Opas Vater, wurde am 10.10.1872 geboren. 


Mein Ur-Großvater Julius war Lokomotivführer

 

Zur Zeit der Hanse war Soest eine reiche Stadt. Doch verpasste sie im 19. Jahrhundert den wirtschaftlichen Anschluss. 1843 wohnten dort nur 8750 Menschen. Mit dem Bahnanschluss 1849 verbesserte sich bis zum Ende des Jahrhunderts die wirtschaftliche Lage. Es entwickelte sich eine Kleinindustrie und der fruchtbare Boden der Börde schaffte Arbeit in der Landwirtschaft und Zuckerindustrie. Durch den Güterverkehr auf der Schiene und dem Bau des Soester Güterbahnhofs wurden sehr viele Arbeitsplätze geschaffen. Auch mein Ur-Großvater Julius Deichmann (2) fand dort eine Anstellung als Triebwagenführer. Meine Mutter wusste zu berichten: „Der Opa war Lockführer auf der ersten elektrischen Bahn in Soest.“

Der Ur-Großvater Julius heiratete die in Linden (Hessen) am 3.5.1875 geborene Marie Westerweller. Deren Vater hieß Max Westerweller und war Bergmann. Die Mutter hieß Marie Westerweller, geborene Metz.  

Aus der Ehe meiner Ur-Großeltern gingen vier Kinder hervor: Das Zwillingspaar Johanna und Mariechen, mein Großvater Julius Deichmann (3) und die jüngste Schwester Martha. Mariechen starb als Kleinkind. Ihre Schwester Johanna wurde Schneiderin und heiratete Dietrich Honnert aus Lohne, der in Sassendorf bei der Bahn beschäftigt war. Aus ihrer Ehe gingen drei Jungen hervor. 

 

Der Ur-Großvater Julius Deichmann (2) baute für seine Familie in der Ahornstraße in Soest ein neues Haus. Das vererbte er später der jüngsten Tochter Martha. Diese hatte als Beruf Weißnäherin (01) gelernt und heiratete den Ernst Häckel, der aus Schwefe (Gemeinde Welver) stammte. Auch sie bekamen drei Jungen, Ernst und Klaus-Dieter, der bereits als Kleinkind starb. Dann musste Marthas Mann in den Krieg. Als er wieder zurückgekehrt war, kam noch Sohn Udo Häckel zur Welt. 

Julius Deichmann (2) und Marie, geb. Westerweller


Im Zweiten Weltkrieg wurde Ur-Großvater mit fast siebzig Jahren noch zum Dienst an der Bahnsperre eingezogen. Besonders in seinen letzten Lebensjahren war das Verhältnis zu seiner Frau nicht glücklich. Marie war als schwierige und unzugängliche Frau bekannt. Sie machte mit ihrer Lieblosigkeit Ur-Großvaters Leben nicht einfach. Verständnis und Zuneigung fand er bei einer anderen, einer Frau in Brilon. Lange Zeit trug er sich mit den Gedanken herum, seine Ehe zu beenden. Doch sein Tod durchkreuzte seine Träume. Er starb im gesegneten Alter von über 80 Jahren. 


Mein Großvater Julius: Sein Leben beginnt im neuen Jahrhundert

 

Da sind die Worte des Kaisers zur Jahrhundertwende, gesprochen am 15.1.1900 in der Königlichen Akademie in Münster: „Dankerfüllten Herzens richtet sich am Wendetage des Jahrhunderts mein Auge zu dem Throne des Allmächtigen, der so Großes an uns getan hat. Zu ihm stehe ich mit meinem Volke in Waffen, dass er auch in Zukunft mit uns sein möge.“ 

Sieht nicht glücklich aus in Uniform: Großvater Julius Deichmann (3) im Juli 1917
Sieht nicht glücklich aus in Uniform: Großvater Julius Deichmann (3) im Juli 1917

Wenige Tage zuvor, am 3. Januar 1900, erblickt Großvater Julius Deichmann (3) in Soest als einziger Sohn das Licht der Welt. Er fällt hinein in eine Zeit der Umbrüche in vielen gesellschaftlichen Bereichen, an der Schwelle einer neuen Epoche. Er, nun von Geburt wegen evangelischen Glaubens, wird getauft auf den Namen Julius, so wie bereits sein Vater und der Großvater. 

 

Durch die wachsende Industrialisierung steigt nicht nur im Kaiserreich Deutschland der Wohlstand. Der weltweite Warenhandel, die interkontinentale Migration, die Kolonialisierungsbemühungen der Industrieländer, erreichten bisher nicht gekannte Dimensionen. Deutschland wandelt sich vom Agrar- in ein Industrieland. Es entwickeln sich staatliche Egoismen, wechselseitiges Misstrauen, Konkurrenzdenken. Ein guter Nährboden für den aufkommenden Nationalismus, der Deutschland in die außenpolitische Isolation mit folgenschwerem Ausgang treibt. Der auflodernde Erste Weltkrieg treibt den Nationalismus zum Höhepunkt und endet in einem Feuersturm nie gekannten Ausmaßes. 

 

Großvater wird schon im Alter von siebzehn Jahren zum Wehr- und Kriegsdienst eingezogen. 1917 steht Europa bereits im dritten Jahr in Flammen und die anfängliche Euphorie kehrt sich in Entsetzen und Ungewissheit über den Ausgang des I. Weltkriegs um. Bei einer Wehrübung fällt Großvater rücklings über ein Geschütz. Dabei zieht er sich eine starke Verletzung am Rückenwirbel zu, die ihn zeitlebens in seiner Bewegung beeinträchtigen wird. Doch wohlmöglich hat sich dieses Unglück für ihn als Glück erwiesen, denn er wurde verschont vom totbringenden Einsatz in der Hölle von Verdun. 

Die Kapitulation Deutschlands im November 1918 ist gleichsam auch das Ende des Kaisertums. Die Weimarer Republik wird ausgerufen. Doch es beginnen unruhige Krisenjahre mit Inflation, Umsturzversuche und politisch motivierten Morden.  

 

Großvater gibt seinen Berufswunsch, Lehrer zu werden, auf. Zu schmerzhaft ist für ihn langes, aufrechtes Stehen. Stattdessen beginnt er eine Lehre als Angestellter in der Verwaltung der Stadt Soest und findet dort nach erfolgtem Abschluss seiner Ausbildung eine feste Anstellung. Die Tätigkeit entspricht seinen Neigungen und Fähigkeiten. Er ist ein „Liebhaber des blauen Dunstes“ und den Tabak erwirbt er in einem kleinen Rauchwarenladen in Soest. Manchmal bedient dort eine junge Verkäuferin, Theresia Flock aus Nuttlar.  Diese hat seit November 1920 als ausgebildete Putzmacherin (02) eine feste Anstellung bei einer jüdischen Modistin in Soest. An deren Hutmachergeschäft ist das Lädchen für Rauchwaren angegliedert, wo Therese manchmal aushilft. Julius findet Gefallen an Theresia und gibt manche Reichsmark für seinen Tabak aus, bis er sein Herz in die Hand nimmt und sich überwindet. Er spricht Theresia an und verabredet sich mit ihr. Beide verlieben sich schließlich ineinander und verbringen viele gemeinsame Stunden in ihrer Freizeit. 


Die Familie meiner Großmutter Theresia Flock in Nuttlar

 

Bereits 1709 sind Nuttlarer Schieferbrecher erwähnt. Der Schieferbergbau ist in Nuttlar deshalb schon sehr früh überliefert. Dieser geschah zu dieser Zeit noch fast ausschließlich in ausgedehnten Schieferbrüchen, in denen das Schieferlager an der Tagesoberfläche freigelegt wurde. Später ging man in die Tiefe, was die sowieso schon harte Arbeit der Bergleute wesentlich erschwerte. Mit dem Anschluss des Ortes an die Ruhrtalbahn 1867 erhöhte sich der Absatz schlagartig und es wurden weitere Arbeitskräfte gesucht. 

Dorfstraße in Nuttlar um 1900
Dorfstraße in Nuttlar um 1900

Arbeit im Schieferbergbau fand auch der Bergmann Eduard Flock, der am 6.9.1840 in Nuttlar geboren wurde. Er heiratete die am 7.6.1843 in Brunskappel geborene Christine Körner. Eine kleine Landwirtschaft sicherte ihre Eigenversorgung. Das war auch nötig, denn das Leben schenkte ihnen eine große Schaar Kinder, die alle ernährt werden mussten. Doch viel zu früh verstarben die Eheleute in kürzester Zeit, innerhalb eines Jahres. Eduard starb am 13.6.1887 und Christine am 26.5.1888. 

 

Sie hinterließen ihrem ältesten Sohn Franz Flock (1), geboren am 8.4.1868, also gerade zwanzigjährig, die Sorge für die Geschwister. Die Situation muss tragisch gewesen sein und die Verantwortung für den jungen Franz, der in der Ahnentafel als Handelsmann bezeichnet wird, groß. 

 

Die Heirat mit Anna Jochheim, die am 5.6.1870 geboren wurde, war ein großes Glück für ihn. Sie stammte aus Wülfte bei Brilon wo ihre Eltern, der Tagelöhner Wilhelm Jochheim, dort geboren am 27.1.1837 und dort gestorben am 23.3.1925 und Johanna Heine, geb. in Wülfte am 23.6.1848, dort gestorben am 20.9.1909, eine kleine Landwirtschaft betrieben. 

Ur-Großmutter Anna Flock, geb. Jochheim
Ur-Großmutter Anna Flock, geb. Jochheim

Anna hatte den Beruf der Schneiderin gelernt und ergänzte in idealer Weise ihren Ehegatten, der in Nuttlar einen kleinen Textilladen eröffnet hatte. Sie war so mit allen Arbeiten, die in ihrem neuen Zuhause in Nuttlar anfielen, vertraut. Auch die Sorge für die minderjährigen Geschwister ihres Ehemannes trug sie mit. Mutter schrieb: „Als seine (Franz) Eltern früh starben, hinterließen sie ihm eine ansehnliche Schar Geschwister von denen noch zwei von meiner Großmutter (Anna) in die Schule gebracht werden mussten. Ihre ersten Ehejahre mussten für sie eine schwere Zeit gewesen sein. Neben der Aufzucht einer völlig aus dem Gleis geratenen Schar Geschwister ihres Mannes, gebar diese, von Statur klein gewachsene Frau, insgesamt neun Kinder.“

 

Ihr letztes Kind, namens Anton, kam zur Welt, als sie bereits verwitwet war. Ihr Mann, Franz Flock (1), starb an Herzwasser am 29.9.1905. Auch das Neugeborene starb sofort nach der Geburt. Anna stand nun vor einer gewaltigen Aufgabe, fand aber Unterstützung in der Familie. Insbesondere der älteste Sohn Franz Flock (2) trat tatkräftig und mit Erfolg in die Geschäfte seines verstorbenen Vaters ein. Trotz ihres harten und entbehrungsreichen Lebens wurde die Ur-Großmutter 86 Jahre alt. Sie starb in Nuttlar im Jahre 1956. 

 

Das waren die Kinder meiner Ur-Großmutter: 

 

- Franz Flock (2), der älteste Sohn, wurde Erbe des kleinen Anwesens und heiratete die Meschederin Franziska Kämper. Aus ihrer Ehe gingen sechs Kinder hervor, darunter der Sohn Franz Flock (3), Vetter meiner Mutter. (Auch er trat später die Nachfolge in Nuttlar an, heiratete Agnes Friedrichs aus Nuttlar. Aus dieser Ehe gingen drei Jungen hervor: Robert, Elmar und Romanus.) Flocks Anwesen (Modegeschäft) in Nuttlar wurde später verkauft. 

- Die Schwester Maria Flock heiratete Max Schur, eines Gutsbesitzers Sohn aus Pommern, der früh starb. Ihr zweiter Mann war Josef Mündelein. Beide bauten sich ein Haus in Eversberg und bekamen vier Kinder. 

- Der Bruder Josef Flock heiratete Therese Dünnebacke. Er arbeitete zuerst an der Bahn und später bei Firma Schneider in Nuttlar. Auch sie hatten sechs Kinder. 

- Eine Tochter, erhielt den Namen der Mutter = Anna, verstarb aber als Kind. 

- Eine nachgeborene Schwester erhielt ihren Namen Anna Flock. Sie heiratete später Heinrich Kersting, der im Schieferbergwerk tätig war. Sie bauten zusammen ein Haus in Nuttlar am Sengenberg und hatten drei Jungen. 

- Christine Flock heiratete Bernhard Braun. Sie starben beide nach wenigen Ehejahren und hinterließen eine einjährige Tochter. Die kleine Änne wurde im Elternhaus der Flocks von der Oma großgezogen. Änne heiratete später den Unternehmer Heinz Mönig aus Nuttlar.

- Und dann war da noch die Jüngste: Theresia Flock, meine Großmutter.

 

Meine Großmutter Theresia Flock

 

Meine Großmutter Theresia Flock erblickt am 5. Juni 1902 in Nuttlar das Licht der Welt. Sie ist das Nestküken in einer großen Familie. An ihren Vater erinnert sie sich kaum, denn sie war erst zweit Jahre alt, als dieser starb. Meine Mutter schrieb: „Sie berichtete von einer sangesfreudigen Familie, erzählte von ihren Jugendstreichen, Erfolgen und Kümmernissen. Wenn sie fort war, hatte sie Heimweh nach ihrer Familie in Nuttlar.“

Am 1. August 1917, nach Abschluss der Volksschule, beginnt sie bei den Modistinnen Vollmer und Schäfer in Velmede eine Lehre als Putzmacherin (02). Mit Draht und Zange kreiert sie die tollsten Hüte und erhält nach drei Jahren in praktischer und theoretischer Prüfung mit guten Noten den Gehilfenbrief. Das geschieht am 14.10.1920. Bereits am folgenden Monatsanfang tritt sie ihre Stelle in Soest an, wo sie den jungen Julius Deichmann kennen und lieben lernt. 

1922, von Soest nach Nuttlar zurückgekehrt, hilft sie in ihrem Elternhaus aus. Dort ist auch die Poststelle untergebracht. Später erzählt sie von den gefüllten Postsäcken und Papierhaufen entwerteter Gelder. Grund ist die Finanznot des Staates, der durch Drucken neuer Banknoten eine Hyperinflation beschleunigt und im November 1923 eine Währungsreform zur Folge hat.  

Theresia Flock als junge Frau 1919
Theresia Flock als junge Frau 1919


Zwei Gebetbücher, ein unüberwindbares Hindernis?

 

Aus Freundschaft wird Liebe und irgendwann stellt „Jülle“ – so wird Großvater von seinen Freunden genannt – Theresia seiner Familie vor. Das Paar schmiedet Pläne für eine gemeinsame Zukunft, doch ihr Glück ist nicht vollkommen. Großvater ist Protestant und Großmutter stammt aus einer erzkatholischen Familie aus dem Sauerland. Grund genug, dass in beiden Familien die Freundschaft ihrer Kinder mit Argwohn betrachtet wird. Mutter schrieb: „In Nuttlar war man davon nicht sehr begeistert. Die Oma, die Flocks Haus und ihr Trüppchen Kinder fest in der Hand hatte, duldete als strenge Katholikin keine zwei Gebetbücher.“

Erinnerungsfoto 1921: Großvater Julius Deichmann (Mitte, sitzend) mit seinen Kollegen der Stadtverwaltung Soest
Erinnerungsfoto 1921: Großvater Julius Deichmann (Mitte, sitzend) mit seinen Kollegen der Stadtverwaltung Soest

Heutzutage dulden die Kirchen die sog. „Mischpaare“. Doch damals war die Exkommunizierung ein probates Mittel der katholischen Kirche zu stigmatisieren um eine konfessionsunterschiedliche Ehe zu verhindern. Das kann Großvater nicht hinnehmen, denn es ist ihm bewusst, wie groß die Kränkung für Großmutter sein wird. Die Ächtung in der eigenen Familie wäre ihr gewiss. Lieber nimmt er den Bruch mit seiner Familie in Kauf. Ein echter Liebesbeweis: Sein Plan, zum katholischen Glauben zu wechseln um Therese heiraten zu können, ist vorerst das Geheimnis der beiden. 

 

Ein Teil der Strategie ist, dass Großvater sich auf eine Stelle bei der Stadtverwaltung in Bochum bewirbt um die Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Die Bewerbung hat Erfolg. Im Sommer 1921 kehrt er seiner Heimatstadt den Rücken und zieht in die aufstrebende Ruhrgebietsstadt. Am 15. Januar 1922 kündigt auch Großmutter ihre Arbeitsstelle in Soest und geht vorerst zurück in ihr Elternhaus.

 

An manchen Sonntagen besucht Großvater sie dort. Es kommt ihm entgegen, dass eine direkte Bahnverbindung vom Ruhrgebiet in das Sauerland besteht. Haltestelle ist der Bahnhof in Bestwig. Er versteht es, die Familie mit seiner heiteren Art für sich zu vereinnahmen und es gelingt ihm auch, Zugang zur kritischen Schwiegermutter in Spe zu finden. Mutter schrieb: „Vater soll sie charmant um Zeit gebeten haben. Jeden freien Sonntag besuchte er in Nuttlar die Hl. Messe und lauschte eifrig der Predigt des katholischen Geistlichen. Irgendwann überraschte er alle mit der Nachricht, dass er in Bochum heimlich Religionsunterricht genommen hatte und nun auch offiziell Katholik ist.“ 

Diese Tatsache wird er seiner Familie in Soest gegenüber nie mitteilen. Erst später, nach seinem frühen Tode, werden sie davon erfahren und zumindest wird sein Vater damit Frieden schließen. 

 

Am 20. August 1924 heiraten Julius und Theresia im Standesamt in Bestwig. Am 19. Februar 1925 folgt die kirchliche Trauung in der Nuttlarer Pfarrkirche St. Anna durch Pfarrer Engelbert Biggemann (03). Großvaters Eltern sind bei der Feier nicht anwesend. 


1925: Ein Neuanfang in Bochum

Das junge Brautpaar richtet sich in Bochum in der Kanalstraße 4 in einer kleinen Mietwohnung häuslich ein. Es ist ein altes Haus, der Putz ergraut vom Verkehr der Straßenbahnen und Busse, ein mächtiger Baum im düsteren Hinterhof, der kein wärmespendendes Licht durchlässt. Dort, oben unterm Dach, beginnen sie ihren gemeinsamen Lebensweg. Die erste Zeit ist schwierig. Besonders Großmutter muss sich an das Stadtleben gewöhnen und sich in ihr neues Leben einfinden. 

 

Die politische Lage hat sich etwas entspannt, doch es bleibt ein labiles System. Auf den Straßen der Stadt sind ständig Umzüge und Krawalle. Mal sind es die Kommunisten, mal die Rechten. Großmutter findet es amüsant, aber mehr aufregend, wenn die Polizei dagegen mit Gummiknüppeln angeht. Großvater setzt mit Ehrgeiz alle Kraft und Energie in seine neuen beruflichen Aufgaben und Großmutter hat oft Heimweh und fühlt sich einsam, denn außer dem älteren Ehepaar Staufenberg, das ebenfalls im Hause wohnt, haben sie anfangs nur flüchtige Bekannte.

 

Ein neues Leben nimmt seinen Anfang: Julius und Theresia Deichmann


1928: Nun sind Deichmanns eine kleine Familie

 

Die Zweisamkeit des jungen Paares soll nicht ohne Folgen bleiben. Es kündigt sich Nachwuchs an. Die Freude ist groß, denn bald werden sie eine richtige Familie sein. Doch das Schicksal wollte es anders. Mutter schrieb: „Am 10. März 1926 gebar Mutter ihr erstes Kind. Die kleine Annemarie wurde nach qualvollen Stunden mit einer Zangengeburt tot zur Welt gebracht. Sie hätte besser das Krankenhaus aufgesucht, aber Mutter wollte, so wie ihre Mutter es immer getan hatte, ihr Kind zuhause zur Welt bringen. Meine Oma Anna Flock, die ihr in der schweren Stunde beistand, hatte seit diesen aufregenden Tagen ein Herzleiden.“

Groß waren die Enttäuschung und die Trauer meiner Großeltern. Und als nach einiger Zeit Großmutter noch eine Frühgeburt hatte, wuchs ihr Heimweh umso mehr. Man sagt: Die Zeit heilt alle Wunden. Doch das Erlittene bleibt haften. Als sich im Sommer 1927 wiederum zeigt, dass Nachwuchs sich ankündigt, ist die Unsicherheit sehr groß. Erst als am 4. März 1928 die Tochter Gisela, meine Mutter, geboren wird, fühlt sich Großmutter in Bochum zuhause. Sie sind nun eine kleine Familie. Das winzige Wesen, dass bei der Geburt nur 2 ½ Pfund gewogen hatte, wurde nun mit großer Sorgfalt aufgezogen, immer mit der Angst, es wieder verlieren zu müssen. 


1930: Umzug in eine Wohnung im Stadtteil Grumme

 

Ihr Kind soll in ländlicher Umgebung aufwachsen, ruhig gelegen und frei vom Verkehr. Eine Wohnung im Bochumer Stadtteil Grumme, damals noch ländlich geprägt, aber dennoch günstig zum Zentrum gelegen, wird bald gefunden. Das Haus, in dem insgesamt fünf Wohnungen vermietet sind, steht im Eigentum des Gesellenvereins und ist mitten im Feld gelegen. 

 

Es wird bald Freundschaft geschlossen mit der Familie Neumann, die auch nach deren Auszug aus dem Haus ein Leben lang halten wird. Hier im Amselweg 17 hat Mutter nach eigenem Bekunden bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges „eine wundervolle Kinderzeit“. Beim Haus haben sie ein eigenes Stück Garten, der mit viel Liebe und Freude bearbeitet und im Krieg durch den Anbau von Gemüse nützlich wird. Getrübt sind die Jahre durch einige Krankheiten der Eltern. Die Ferien- und Urlaubszeit verbringt die Familie regelmäßig bei den Verwandten im Sauerland. In Nuttlar fühlen sich die Deichmanns immer aufgenommen und gern gesehen. Dann trifft sich eine große Schar von Kusinen und Vettern beim Spielen in sommerlicher Natur. Großvater Julius hilft gerne bei den Erntearbeiten und sieht darin einen willkommenen Ausgleich zu seinem Berufsleben, das nicht immer einfach ist. Und Großmutter fühlt sich sowieso immer da am wohlsten, wo sie geboren und aufgewachsen ist. 

1934: Zuwachs in der Familie

Ich lasse Mutter erzählen: „Dann kam ein Tag, den ich nie vergessen werde: Der 12. November 1934 war ein Montag. Entgegen aller Gewohnheit wurde ich früh morgens von Vater geweckt. Er hob mich aus dem Bett, nahm mich in den Arm und sagte: „Mädelchen, du hast ein Schwesterchen.“ Meine Reaktion war keine Eifersucht, nur Glück und Stolz – endlich nicht mehr allein sein! Da war sie also da: Marlies, 6 Pfund schwer, nicht wie ich bei meiner Geburt, ein winziges Etwas. Sie war kerngesund und putzmunter, kam im Elisabeth-Krankenhaus zur Welt und behauptete sich vom ersten Tag an recht energisch. Marlies war Vaters erkorener Liebling. Ich dagegen schloss mich mehr der Mutter an. „Fürkchen“ nannte sie Vater liebevoll und „Lass sie erstmal so alt sein, die wird es dir schon zeigen“. 

 

Mit der Geburt von Marlies ist Deichmanns Familie komplett. Auch wenn der erhoffte Junge, der den Familiennamen erhalten sollte, ausblieb: Großvater ist stolz auf seine Mädels und die wenigen friedvollen Jahre, die bis zum Beginn des schrecklichen Krieges ins Land gehen, werden später als die letzte wirklich glückliche, gemeinsam erlebte Zeit der Familie gesehen. 

 

 



Bilder aus glücklichen Tagen


Der 1. September 1939: Es ist Krieg

 

Gerade sind sie, meine Großeltern und die Kinder, heimgekehrt aus den großen Ferien, die sie wie immer in Nuttlar verbrachten. Am nächsten Morgen werden alle durch lautes Schellen geweckt. Der Ruf „Mobilmachung“ lässt Großmutter erbleichen, denn sie hat keine Lebensmittel im Haus und Schuhe sowie Kleidung der Mädchen sind während der Ferien aufgetragen. Es ist ein schlimmer Anfang, denn es gibt ab sofort nur noch Waren auf Scheine. Doch Großmutter ist eine praktische Frau. Sie ribbelt alte Kinderstrümpfe und Pullover auf und strickt daraus neue Kleidung. Die wenigen Lebensmittel, die sie noch auf dem Markt bekommt, versucht sie zu strecken. Wenigstens die Kinder sollen nicht hungern. 

Bochum in Trümmern
Bochum in Trümmern

Bochum wird zwischen 1940 und dem 31. März 1945 von 240 Luftangriffen zerschunden und zerstört. Der schrecklichste Angriff fand am 4. November 1944 statt. Geschätzt 6000 Bochumer Bürger ließen damals „an der Heimatfront“ ihr Leben und knapp 7800 erlitten Verletzungen. Grausam sind die Nächte in den Kellern, in die sich auch Deichmanns zum Schutz vor den Bombenangriffen der Alliierten retten. Wie viele finden am nächsten Morgen ihr Heim zerstört und in Schutt und Asche gelegt. Auch das Haus im Amselweg wird beschädigt. Eine Miene hat Wände eingerissen und Fenster und Porzellan zerdeppert. Wenigstens haben Deichmanns noch ein Dach über dem Kopf. 

 

Auch die Schule wird stark beschädigt und Gisela muss mit ihren Mitschülerinnen beim Aufräumen helfen. Sie trifft ein brennender Balken so schwer am Rücken, dass die Eltern beschließen, sie nach Nuttlar aufs Land zu bringen. Marlies war schon länger, nach Beginn der Bombenangriffe auf das Ruhrgebiet, dort bei den Verwandten. Im Mai 1943 muss Gisela wieder nach Bochum zurückkehren. Ihre Schulklasse wird in den Osten verlegt, nach Schneidemühl. Nun ist die Familie auseinandergerissen. Die Eltern harren in Bochum aus, denn Großvater hat seine beruflichen Pflichten zu erfüllen.  

Marlies Kommunionfeier in Nuttlar

 

Heute, zu Marlies Erstkommunion 1944 ist die Familie für ein paar Stunden in Nuttlar vereint. Die Großeltern, denen das schwere Leben ins schmale Gesicht geschrieben ist, sind von Bochum angereist und Gisela ist seit März von Schneidemühl zurückgekehrt. Auch die Paten, Kusinen und Vettern sind angereist und feiern mit der Familie diesen besonderen Tag. 

 

 

Schon am nächsten Tag gehen alle ihre eigenen Wege. Die Großeltern müssen wieder zurück ins zerbombte Bochum, Marlies bleibt in Nuttlar bei den Verwandten. Dort geht sie mit den Nuttlarer Mädchen zur Schule. Sie ist eine ehrgeizige und gute Schülerin, so wie es ihr Vater vorausgesagt hatte. Gisela beginnt im April 1944 ihr Pflichtjahr auf dem Schultenhof in Sallinghausen. 

 

„Mutter, wenn du dein Kind liebhast, hol mich hier weg!“ 

Gisela Deichmann und Otto Feldmann 1945
Gisela Deichmann und Otto Feldmann 1945

Das schreibt Gisela voller Verzweiflung an ihre Mutter nach Bochum. Der Anfang ist für sie schwer auf dem Schultenhof in Sallinghausen. Und als der Bauer Heinrich Heymer meint: „Ein Stadtmädchen passt nicht aufs Land“, weckt das ihren Ehrgeiz. Das kann sie nicht „auf sich sitzen lassen“ und sie bleibt und leistet ihr Pflichtjahr bis zum Ende ab.

In Sallinghausen erlebt sie im April 1945 die letzten Tage des Krieges und sie bleibt ein weiteres Jahr auf dem Schultenhof, bis Ende Januar 1946. Ihre Erlebnisse in dieser Zeit hat Mutter zu Papier gebracht. Dazu verweise ich auf den Aufsatz:  "Als der Krieg ging und der Friede kam"

 

Dann, im März 1946 wird sie eine Ausbildung als Lehrköchin im Josefs-Hospital in Bochum beginnen. 

In den fast zwei Jahren in Sallinghausen, ist viel Verbindendes geschehen. Mutter schreibt später: „… wenn ich dachte, es geht nicht mehr, war EINER da, der mir wieder Mut zusprach. Ich war noch so jung, lebte immer nur bei fremden Leuten. Wie schwer ist es für so ein junges Menschenkind, nie ein lobendes und liebes Wort zu hören. Und langsam kam der Wunsch in mir auf, immer bei Otto bleiben zu dürfen.“  

Wenn meiner Mutter auch viele Wünsche in ihrem Leben versagt blieben, so wurde doch dieser erhört. Am 15. Oktober 1949 feiern meine späteren Eltern, Otto Feldmann und Gisela, geb. Deichmann, ihre Verlobung und geben sich ihr Eheversprechen, das sie mit ihrer Hochzeit am 20. Mai 1953 einlösen.

Doch das alles konnte mein Großvater Julius nicht mehr miterleben.  

Was war geschehen?

 

Nach der Ausbildung in Bochum erhält Mutter eine Anstellung als Wirtschafterin auf dem Gutshof Schulte-Stiefermann in Wennigloh. Zu Neujahr 1948 erhält sie eine Woche frei und fährt mit Otto nach Bochum. Dort sehen sich Großvater und Vater das erste Mal und nach dem Bekunden meiner Mutter verstanden sich die beiden Männer auf Anhieb. Sie nutzen die seltene Gelegenheit zum Kennenlernen. Großvater sieht schlecht und erschöpft aus, doch keiner macht sich um ihn Gedanken, gar Sorgen. Keiner ahnt, dass dies die letzten Lebenstage sind, die sie mit Großvater gemeinsam verbringen. 

 

Es ist nur wenige Wochen später an einem Sonntag: Mutter erhält an diesem 29. Februar 1948 ein Telegramm nach Wennigloh. Sein Inhalt beschränkt sich auf die Nachricht, dass sie sofort heim nach Bochum kommen solle. Warum die Eile und keine weitere Information? Am Bahnhof in Bochum angekommen, erwarten sie Bekannte in Trauerkleidung. Jetzt wird klar, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. „Vater war gestorben, mit 48 Jahren an Leukämie. Der Schlag war entsetzlich. Keiner hatte geahnt, wie krank er war“, berichtete Mutter später. Großvater wird am 4. März 1948 in Bochum beigesetzt, am 20. Geburtstag meiner Mutter. 


Meine Sicht der Dinge über das Leben meines Großvaters

Großvater Julius Deichmann starb am 29.02.1948 im Alter von 48 Jahren (Foto: 1937)
Großvater Julius Deichmann starb am 29.02.1948 im Alter von 48 Jahren (Foto: 1937)

Mutter hat sich in ihren Aufzeichnungen von ihrem Standpunkt aus erinnert. Sie betrachtete es aus der Sicht des Kindes, was sie damals war. Und als Kind will man das, was belasten könnte, nicht wahrnehmen, sich davor schützen. Im Rückblick auf das Geschehene ruft sie in ihren Aufzeichnungen die schönen Erlebnisse ins Gedächtnis zurück, aber Belastendes wird nur oberflächlich erwähnt oder unter den Tisch gekehrt. 

 

Großvaters Leben kann man nicht isoliert betrachten, denn es war von Anbeginn eingebunden die Widrigkeiten seiner Zeitepoche. Über seine Kindheit ist wenig zu berichten. Diese endete jäh im Kanonendonner des ersten Krieges. Die Jahre der beruflichen und persönlichen Findung folgen und führen in ein Loslösen von der Familie. Dazu gehört Mut und Entschlusskraft, aber auch die Liebe zu einem Menschen, mit dem er sein weiteres Leben teilen will. 

 

Während draußen auf den Straßen Menschen einer krisengeschüttelten neuen Republik gewaltsam ihre Standpunkte austragen, fordern die beruflichen Veränderungen, ein neues Umfeld und eine neue Lebenssituation seine volle Aufmerksamkeit. Die ersten Ehejahre sind überschattet von der Trauer über die Totgeburt eines Kindes. Dann wieder Hoffnung und Enttäuschung, dann Bangen und Sorgen um die Gesundheit des nächsten Kindes. 

 

Im Nachklang wird diese Zeit im Allgemeinen als die Goldenen Zwanziger bezeichnet und tatsächlich bahnen sich für die kleine Familie einige gute Jahre an, die Mutter als „wundervoll“ in Erinnerung behielt. Mit dem Börsencrash 1929 enden die goldenen Jahre abrupt und führen zur Wirtschaftskrise. Millionen sind arbeitslos, doch Großvater ist Beamter in der Verwaltung. Er verrichtet diensteifrig und korrekt im neuen repräsentativen Rathaus der Stadt seine Arbeit. Er wird von Vorgesetzten und Kollegen respektiert, wird anerkannt, befördert und ist beliebt. Überhaupt ist Großvater gesellig und verbreitet frohgestimmte Laune, besonders in Großmutters Heimatort beim Schützenfest oder zu den Familienfesten. Zur Nachbarschaft werden gute Beziehungen gepflegt, die Jahrzehnte aushalten. 

 

Seine Kinder empfinden ihn streng aber gerecht und sie buhlen um seine Aufmerksamkeit. Stolz empfindet Großvater, wenn er mit seinen „drei Mädels“ im sonntäglichen Dress durch den Stadtpark flaniert. Es sind die kleinen Freuden, die ihm das Leben verschönern, dennoch hat er Träume. Einer ist, irgendwann ein eigenes Heim zu bauen, Eigentum zu schaffen. Dafür spart er und legt jede Reichsmark, die er erübrigen kann, zur Seite. 

Doch wieder einmal stehen die Zeichen auf Sturm. Der Nationalsozialismus treibt seine Blüten bis hinein in sein berufliches Leben. Noch weigert er sich, doch bald wird er widerstrebend das Parteiabzeichen unters Revers heften. Er muss sich und die Familie schützen, wird aber nie seine Meinung ändern. Doch er muss sich hüten, sie zu äußern, auch in der eigenen Verwandtschaft. Sein Motto: „Reden ist Silber und Schweigen ist Gold“. 

Damit kann er leben, muss er leben – so wie die schweigende Mehrheit der Deutschen in dieser Zeit. 

Der Beginn des zweiten Krieges 1939 sieht er mit großer Sorge. Schon die Ausstellung seines Wehrpasses zwei Jahre zuvor, behagt ihm nicht, doch die Eintragung „bedingt tauglich aber arbeitsverwendungsfähig zur Landwehr“ verdankt er seiner Verletzung im ersten Krieg. 

Das letzte Familienfoto: 1946 oder 1947
Das letzte Familienfoto: 1946 oder 1947

Die ersten Bomben auf Bochum fallen bereits 1940. Sind es zuerst Industrieanlagen, so ist bald auch die Innenstadt Ziel der Angriffe. Häuser werden zerstört und erste Todesopfer sind zu beklagen. Über Nacht sind Menschen ohne Dach über dem Kopf, obdachlos. Die Verwaltung der Stadt funktioniert bis zum bitteren Ende. Akribisch wird die Zahl der Opfer gezählt, die Zerstörungen registriert. Behördenalltag. Großvater ist zuständig für die Beschaffung von Wohnraum für die „Ausgebombten“. Es ist ein schwieriges Unterfangen, desto länger der Krieg dauert. Seine Sorge gilt seiner Familie und er findet Wege, sie in Sicherheit zu bringen. Nuttlar ist ein sicherer Hafen, doch er muss zurückbleiben und seine Pflicht tun. Auch er selbst muss sich schützen, viele Nächte im Luftschutzbunker verbringen. Angst und Sorge um sein Leben und die der Familie treibt ihn um. Die Arbeit wird zu einer Belastung für seine Seele. Kein Tag ohne Tote, Verletzte, rat- und heimatlose, hungernde Menschen. Auch Großvater hat Hunger und nicht jeden Tag ein warmes Essen auf dem Tisch. Erst recht nicht, als der Krieg verloren geht, denn es herrschen chaotische Zustände in seiner Stadt. Der Hunger treibt die Menschen hinaus aufs Land um letzte Habseligkeiten gegen Essbares zu tauschen. Deichmanns Haus in Grumme ist beschädigt aber bewohnbar. Großmutter und Marlies kommen zurück. Die Familie erhält über heimliche Wege Päckchen. Die Absender wohnen in Nuttlar und Sallinghausen. 

 

Unbemerkt von allen verändert sich Großvater. Er ist müde und schwach, in sich gekehrt, nimmt aber seine Aufgaben wahr. In ihm entsteht eine heimtückische Krankheit, die Leukämie, Blutkrebs. Bis heute streiten Wissenschaftler über das Entstehen dieser Krankheit. Was löst sie aus? Vermutungen bestehen, dass über eine lange Zeit bestehende Stresshormone Veränderungen in den Zellen auslösen oder das Immunsystem so schwächen, dass die körpereigenen Kräfte dem Krebs nichts entgegenzusetzen haben. 

Da stirbt ein Mensch, unerwartet auch für die nächsten Angehörigen, im Alter von nur 48 Jahren. Kaum vorstellbar, dass Großvater es nicht geahnt und ärztlichen Rat gesucht hat. Er wollte seine Familie nicht belasten, wie immer alle Probleme von ihr fernhalten, es mit sich selbst ausmachen. Er wird seine Gründe gehabt haben, denn Großmutter war immer kränklich und nervlich wenig belastbar. „Plötzlich und unerwartet ...“ liest man in der Todesanzeige.

 

Beurteile ich Großvaters Leben aus meiner Sicht, aus der Einschätzung eines Menschen, der in fast siebzig Lebensjahren nur Frieden, Wohlstand, Arbeit und Auskommen, eine relativ gute Gesundheit genossen hat, so sehe ich sein Leben in großen Teilen als ein schwieriges und auszehrendes. Das fordert meine Hochachtung und Respekt vor seiner Lebensleistung, die nicht im Materiellen besteht. Es ist seine menschliche Größe, seine Charakterstärke, sein Handeln und Sorgen, sein Pflichtbewusstsein. Ich spüre große Wertschätzung und empfinde es als einen Verlust, ihn nie gekannt zu haben. 


Meine Sicht der Dinge über Gisela und Marlies, die ungleichen Schwestern

 

Es ist der Zufall, der aus dem Füllhorn der Gene unserer Vorfahren, jedes Menschenkind zu einer einmaligen Persönlichkeit gestaltet und in das Leben entlässt. Das Umfeld, in das es hineingeboren wird und die Menschen, die es dabei begleiten, formen doch dessen Wesensart nur begrenzt. Es sind die vorhandenen Anlagen des jungen Menschen, die Erziehung zulassen oder darin Grenzen setzen. Da sind menschliche Eigenschaften, Vorlieben und Neigungen, Interessen und Begabungen, theoretische oder praktische Intelligenz vorhanden. Diese Anlagen entwickeln sich nach deren Förderung und vorhandenen Möglichkeiten. Eine Entwicklung in alle Richtungen ist möglich, beeinflusst durch die Zufälligkeiten, die jedes Leben bereithält. 

 

Das sind Aussagen, die allgemein gültig sind und eine Normalität darstellt, sich auf jeden Menschen bezieht. Es ist es ein bekanntes Phänomen, dass Geschwister beiderlei Geschlechts sich durch ihre Wesensmerkmale, die ja den Menschen in seiner Einmaligkeit ausmachen, unterscheiden. Und das ist gut so. Es macht auch die Vielfalt und das Besondere und Spannende eines Familienlebens und des Miteinanders aus. Die Wesensentfaltung jedes Einzelnen sollte in diesem Umfeld möglich und gefördert, nicht im Ganzen untergehen oder unterdrückt sein. 

Im Jahr 1940 beginnt die Schulzeit für Marlies, hier mit Mutter und der großen Schwester Gisela
Im Jahr 1940 beginnt die Schulzeit für Marlies, hier mit Mutter und der großen Schwester Gisela

Gisela und Marlies: Sie waren schon vom Aussehen unterschiedliche Persönlichkeiten. Ihr Wesen und ihre Ausstrahlung auf ihre Mitmenschen war nicht dieselbe und so wurden sie auch von diesen oft unterschiedlich wahrgenommen. Wie wir wissen, ist das alles nicht ausgewöhnlich und zeigt, dass jede eine eigenständige Persönlichkeit mit unterschiedlichen Neigungen, Stärken und Schwächen war. Und da ist die Tatsache, dass sie dieselben Eltern hatten und deren strenge, aber liebevolle Erziehung in gleicher Weise genossen, nicht für sich alleine ausschlaggebend. Und doch waren sie Geschwister, die sorgend miteinander umgingen, gerade in den dunkelsten Momenten ihres Daseins.

 

Allein die Tatsache, dass zwischen beiden ein Altersunterschied von mehr als sechs Jahren bestand, führte in diesen bewegten und umwälzenden Zeiten zu anderen Lebenserfahrungen. 

 

Giselas unbeschwerte Jahre waren die ihrer Kinderzeit. "Sie waren „wundervoll“, wie sie aus ihrer Erinnerung heraus beschrieb. Dann kam ihr Schwesterchen zur Welt, die sie mit kindlicher Freude in ihr Herz schloss, aber bald erfahren musste, dass sie die Aufmerksamkeit ihrer Eltern mit Marlies teilen musste, obwohl deren Liebe zu ihr nicht geschmälert wurde. War Gisela in den ersten Lebensmonaten ein zartes und gebrechliches Wesen, so erschien nun unvermittelt eine kleine Schwester, deren Ankunft von ihren Eltern sorgenvoll erwartet wurde. Nun aber sahen sie mit erleichtertem Herzen, dass Marlies ein lebhaftes und kerngesundes Wesen war. Alle Sorgen waren vergessen und mit Stolz wurde die Jüngste vom Vater verhätschelt, die Eifersucht der älteren Tochter nicht erkennend, die doch schon so selbstständig und verständig schien. 

 

1939 begann der II. Weltkrieg, der alles schlagartig veränderte. Die folgenden Jahre waren für beide prägend, für jede auf eigene Weise. Während Marlies noch in Bochum eingeschulte wurde, ließ die Entwicklung des Krieges es nicht zu, dass die Schulen im Bombengebiet weiter geöffnet waren. Sie verbrachte die letzten Kriegsjahre bei den Verwandten in Nuttlar und ging dort zur Schule und zur Hl. Kommunion. Giselas Schule wurde 1943 nach Ostpreußen verlegt, wo sie ihren Abschluss machte bevor sie nach Bochum zu den Eltern zurückkehrte. Die beiden Schwestern waren so über eine lange Zeit voneinander getrennt und sahen sich nur während der seltenen Aufenthalte im Sauerland. Ein gemeinsames Aufwachsen der beiden war damit nur bedingt möglich. Zudem beschwerte die ständige Sorge um Leib und Leben, nicht nur des eigenen, auch der Angehörigen, das Seelenleben der Kinder. Keiner wusste, wie es dem anderen gerade ergeht. Diese Ungewissheit ist für einen jungen Menschen belastend und prägend für das ganze Leben. 

Gisela und Marlies 1953 im Garten in Sallinghausen
Gisela und Marlies 1953 im Garten in Sallinghausen

Ihre Lebenswege nahmen auch nach Kriegsende andere Richtungen. Der frühe und unerwartete Tod des Vaters, war für die Schwestern traumatisch, besonders für die pubertierende Marlies, deren die Liebe des Vaters in den letzten Jahren durch die äußeren Umstände entzogen war. Der ständige Wechsel des Wohnsitzes brach für sie nicht ab. Neheim war nur eine Zwischenstation. Der ständige Schulwechsel eine weitere Belastung. Der Wunsch nach einem eigenen Zuhause war bei beiden Schwestern übermächtig. Gisela fand dieses mit ihrer Einheirat auf den Bauernhof in Sallinghausen, wo sie als dreifache Mutter und Frau eines Bauern ein mehr als ausgefülltes Leben erwartete. Sie beneidete oft ihre jüngere Schwester, die ein ganz anderes Leben führte, unabhängig und modern. 

Marlies hatte einen Beruf, dadurch ein eigenes Einkommen und unternahm Flugreisen und sah etwas von der Welt. Trotzdem musste die große Schwester einsehen, dass Marlies Lebensweg von Höhen und Tiefen bestimmt wurde. Doch mancher gut gemeinte Rat wurde nicht als solcher empfunden. So war das Verhältnis der beiden zueinander oft gespannt und von Unverständnis beiderseitig geprägt. 

 

Zu verschieden waren ihre Einstellungen und Sichtweisen. Das zeigte sich in den letzten Lebensjahren durch die Tatsache, dass ihre Erinnerungen an gemeinsame Lebensereignisse unterschiedlich interpretiert und wiedergegeben wurden. Hartnäckig hielt jede an ihrer Meinung fest. Darin waren sie sich ähnlich. Wohl auch darin, dass sie sich beide damit schwertaten, loszulassen und abzugeben. Sie liebten ihre Kinder, doch hatten beide ihrer selbst willen Probleme, diese in die Welt zu entlassen. Sie waren Menschen, wie jeder von uns, mit unterschiedlichen Stärken, aber auch Schwächen und Eigenheiten. Wir sind ihnen zu Dank verpflichtet, für alles das, was sie uns als Rüstzeug für unser Leben hinterließen. Und dazu gehören auch die vielfältigen Erinnerungen an die ungleichen Schwestern, zu denen wir Mama und Tante sagten. 


Anhang:

 

01.   Der Beruf der Weißnäherin ist nahezu ausgestorben. Das aber hat etwas mit sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun. Es ist gar nicht so lange her, da wurde eine Frau, die den Bund der Ehe schloss, mit einer üppigen Aussteuer ausgestattet. Hierbei handelte es sich in erster Linie um Bettwäsche, Handtücher, Tischdecken usw. Da die Aussteuer meist aus weißen Stoffen bestand, wurde sie auch allgemein als Weißwäsche bezeichnet. Wurden Laken, Tischtücher und Co. vor der Hochzeit genäht, gönnten sich manche Familien den Luxus und bestellten eine Weißnäherin. Diese half dann den Frauen beim Zurechtmachen der Aussteuer. Seitdem die Aussteuer nicht mehr üblich ist, hat auch die Weißnäherin mehr oder wenig ausgedient.

02.   Putzmacherin ist eine alte Bezeichnung des Berufes einer Modistin. Die Produktpalette eines Modisten-Ateliers umfasst vor allem Kopfbedeckungen verschiedenster Materialien, beispielsweise Filz, Stoff, Pelz und Stroh. Die Formen reichen vom Hut über die Mütze und Kappe bis zum Kopfschmuck und zu Spezialitäten für die verschiedensten Anlässe.

03.   Pfarrer Biggemann: Bei Aufräumarbeiten im Pfarrheim wurden Unterlagen gefunden, aus denen hervorgeht, dass der Nuttlarer Pfarrer Engelbert Biggemann im Jahr 1948 aus Anlass seines 50-jährigen Ortsjubiläums von der Gemeinde Nuttlar zum Ehrenbürger ernannt wurde. Biggemann war von 1898 bis zu seinem Tod 1952 Seelsorger in Nuttlar. Nach ihm ist die Biggemann-Straße benannt. Seine letzte Ruhestätte hat er in der Friedhofskapelle gefunden. Im Rathaus der Gemeinde Bestwig gibt es eine Galerie mit den Ehrenbürgern der bis 1975 selbständigen Gemeinden. Pfarrer Biggemann ist hier nun hinzugefügt.  Sein Bild hängt nun in einer Reihe mit Kardinal Franz Hengsbach, der aus Velmede stammt und dem ehem. Bundespräsidenten Heinrich Lübke sowie dessen, aus Ramsbeck stammenden Ehefrau, Wilhelmine Lübke.