Ein erfülltes Leben an den Ufern der Wenne


Andreas Haus und seine Bewohner

Unmittelbar an der viel befahrenen Landstraße L 541, zwischen Wenne und Wenholthausen gelegen, steht einsam ein Wohnhaus, welches nach dem Tod des Eigentümers Robert Wrede vor wenigen Jahren einen neuen Besitzer fand. Nun scheint es dem Verfall überlassen und so nutzlos wie die vis a vis vor sich dahin rostende Fischbauchbrücke der stillgelegten Bahnstrecke Finnentrop - Wennemen. Eigentlich hätte es das Schicksal der einst benachbarten Siedlung der Familie Bauerdick teilen sollen, die 1909 im Zuge des Bahnbaus aufgegeben wurde. Doch die Heimatverbundenheit von Ignaz Schulte, der dieses Haus einmal zu Eigen hatte, ist es zuzuschreiben, dass es heute noch wie einst dort am Wege steht.

 

Dieses Haus hat eine Geschichte, so wie die Menschen, die es einmal bewohnt haben.

Dieser Bericht erzählt davon und erinnert an die Bewohner, die diesen Ort ihr Zuhause nannten. 


Die Haltestelle "Station Wenne" nach der Eröffnung der Bahnstrecke im Jahre 1911
Die Haltestelle "Station Wenne" nach der Eröffnung der Bahnstrecke im Jahre 1911

Im Zuge des Bahnstreckenbaus der Nebenstrecke Wenholthausen – Fredeburg – Schmallenberg wurde vom Eisenbahnfiskus an der Wenne, zwischen Wenholthausen und Eslohe gelegen, der Haltepunkt „Wenne“ eingerichtet. Hier herrschte nach dessen Fertigstellung und Inbetriebnahme im Jahre 1911 reges Leben ankommender und abfahrender Fahrgäste. Die Haltestelle diente den „Strickfrauen“, die aus dem hiesigen Raum zur Firma Falke in Schmallenberg zur Arbeit fuhren, als auch den Schülern aus dem Schmallenberger Raum, die in Eslohe die Landwirtschaftsschule besuchten. Vielleicht gibt es sie noch, damalige Reisende, die noch heute gern an die geselligen Wartezeiten im Bahnhofshäuschen denken. Doch wer erinnert sich an den älteren Mann an dieser Haltestelle, dessen faltenreiches Gesicht ein grauer Vollbart zierte und der auf seinem Kopf eine rote Mütze trug?

 

Es war Ignaz Schulte, der mit 65 Jahren noch eine tägliche Beschäftigung in der Betreuung der „Station Wenne“ fand. Und es gehörte zu seinen Aufgaben den kleinen Warteraum zu heizen, die Lampen anzuzünden und wieder zu löschen, für Ordnung zu sorgen und auf die Winterschüler aufzupassen, damit diese in ihrem jugendlichen Ungestüm nicht alles auf den Kopf stellten. Seine Tochter Johanna half ihm, indem sie für die Reinigung der Station sorgte.

 

Ignaz Schulte war, so ist überliefert, ein beliebter Zeitgenosse. Er erzählte gerne Geschichten aus seinem bewegten Leben, besonders von seinen Kriegserlebnissen im siegreichen Feldzug von 1870 gegen die Franzosen. Eines Tages übergaben ihm die Eisenbahner eine rote Mütze und nannten ihn fortan scherzhaft Bahnhofsvorsteher. Er machte diesen Spaß gerne mit. Mit erhobenem Krückstock gab er das Abfahrtssignal.

Als Ignaz Schulte am 13. September 1930 mit 83 Jahren nach kurzer Krankheit verstarb, konnte man sicher sein, dass dieser Mann eine harte, aber erfüllte Lebensreise beendet hatte. Der Chronist Heinrich Heymer, Bauer aus Sallinghausen, erinnerte sich gern an ihn: „Ich freute mich jedes Mal, wenn ich Jemanden zur Station bringen oder von dort abholen musste. Dann, aber auch beim Kühe hüten, traf ich Ignaz Schulte, dessen Erzählungen ich immer gespannt lauschte. Nach seinem plötzlichen Tod haben ihn viele sehr vermisst. Ich habe richtig nach ihm gejammert.“

Portrait der Eheleute Ignaz und Theresia Schulte. Dieses Foto entstand um 1915.
Portrait der Eheleute Ignaz und Theresia Schulte. Dieses Foto entstand um 1915.

Den größten Teil seines Lebens verbrachte Ignaz Schulte auf seinem Anwesen an der Wenne. Er konnte sich sein Leben an einem anderen Ort nur schwer vorstellen. Sein Haus wurde früher „Andreas Haus“ genannt; nach dem Vater von Ignaz, dem Andreas Schulte. Dieser war gebürtig vom Schulten Hof in Oberberndorf. Im Jahre 1868 hatte er das Haus an der Wenne von zwei alleinstehenden Damen, namens Eickhoff, käuflich erworben. Diese mussten aus Altergründen den Wohnsitz aufgeben, wo sie eine Kaffeewirtschaft für Straßenfuhrleute betrieben hatten.


Andreas Schulte war Schäfer von Beruf und hütete die Schafe auf dem Hof Grewe, genannt Wichers, in Schüren. Bei einem „Schäferstündchen“ lernte er die in Schüren geborene Caroline Potthöfer kennen. Sie verliebten sich und wie es kommen kann, wurde Caroline bald schwanger. So gaben sich die beiden im Wonnemonat Mai des Jahres 1847 in der alten Pfarrkirche St. Severinus in Calle (neue Pfarrkirche erbaut: 1853-1858) das Ja-Wort. Zwei Monate später, am 22. Juli 1847, wurde Ignaz geboren.


Seine Jugendjahre erlebte dieser mit seinen Eltern und jüngeren Geschwistern in Schüren. Als die Familie 1868 in ihr neu erworbenes Haus im Tal der Wenne umzog, nahm der Vater die Schäferstelle auf dem Hof Kleffmann in der „Meßmecke“ (ehemaliger Pachthof,  zwischen Gut Wenne und Büemke gelegen) an und Ignaz musste zum Militärdienst als Infanterist. Am 19. Juli 1870 erklärte Frankreich dem Königreich Preußen und damit dem gesamten Norddeutschen Bund den Krieg. Ignaz gehörte zu einer der drei deutschen Armeen, die in Frankreich einmarschierten. Für ihn endete der für Preußen später siegreich ausgehende Krieg bereits am 3. September 1870. Ein Geschoss aus einem Infanteriegewehr traf ihn in den Hals und verwundete ihn schwer. So wurde er vorzeitig in die Heimat gebracht. Seine Kehlkopfverletzung verursachte zeitlebens eine heisere Stimme und brachte ihm eine bescheidene Kriegsrente ein.

 

Seine Schwester Karolina fand auf dem Schultenhof in Sallinghausen eine Stelle als Magd. Ihr Vater, Andreas, schloss am 14. März 1868 mit dem neuen Brotherrn Eickhoff einen „Mietvertrag“ aus dem sie nach zwölf Dienstjahren wegen Heirat mit dem Maurer Ferdinand Sternberg auf dem Beil in Niedereslohe ausschied. (dazu erzählt mein Bericht: Auf Martini)

 

Ignaz hatte den Beruf des Hammerschmiedes erlernt. Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1912 fand er Arbeit auf dem Niederesloher Kupferhammer der Firma Gabriel. Heinrich Heymer erinnerte sich: „Ignaz Schulte war allen Sallinghausern bekannt, da er an Werktagen zu Fuß auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte durch unser Dorf kam. Im Winter, wenn es dunkel war, benutzte er eine Handlaterne. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Als Schulkinder mussten wir morgens zur gleichen Zeit aus dem Bett.“

 

Er heiratete Theresia Winter, gebürtig aus Kückelheim bei Eslohe. Aus ihrer Ehe gingen zehn leibliche Kinder hervor, sodass es unschwer nachvollziehbar ist, dass es keine leichte Aufgabe der Eheleute war, die große Familie zu ernähren. Alle fanden irgendwie Platz in ihrem bescheidenen Heim an der Wenne. Dennoch nahm Ignaz bereitwillig den Neffen Fritz, Sohn seines Bruders Josef auf. Dieser war in Wenholthausen als Tagelöhner tätig und seit 1886 mit Gertrud Steinberg aus Velmede verheiratet. Doch ein harter Schicksalsschlag ereilte im Mai 1893 die junge Familie. Beide Eheleute erkrankten an der heimtückischen Krankheit Typhus und starben innerhalb von zwei Tagen. Sohn Fritz, ein Säugling im Alter von drei Monaten, war nun Vollwaise. Ignaz entzog sich nicht der Verantwortung und nahm das kleine Kind zu sich, sorgte für dieses wie für seine eigenen.

Fritz Schulte wuchs zwischen seinen Vettern und Kusinen auf. Als Erwachsener erwarb er später von Piepers in Sallinghausen „Schmies Haus“, wo noch heute seine Nachkommen (Familie Helmut Schulte) leben. Aus seiner Verbundenheit und tiefen Dankbarkeit zu seinen Zieheltern hat er nie ein Geheimnis gemacht. 



In den Jahren von 1905 bis 1911 war in der Familie des Ignaz Schulte die Entscheidung des Hausherrn umstritten, das Angebot der Reichsbahn auf Abfindung abzulehnen. Er ließ sich zur Aufgabe seines Hausgrundstückes nicht bewegen. Die Tatsache, dass ihm die Eisenbahnbrücke direkt vor die Nase gesetzt wurde und dass die Aussicht bestand, dass sein Haus beim Sprengen der Felsen während der Bauarbeiten großen Schaden nehmen konnte, ja während der Bauzeit unbewohnbar war, konnten seinen Entschluss zum Bleiben nicht ändern. Er zog für mehrere Monate mit seiner Familie in das halb verfallene Kleffmanns Haus in der Meßmecke. Überglücklich kehrte er nach Fertigstellung der Bahnstrecke und nach gründlicher Renovierung seines Hauses wieder zurück. Seine Freude wurde aber bald getrübt, als sein ältester Sohn Josef bekundete, er wolle auf sein Erbe verzichten. Später wurde dieser Mitinhaber der Firma Wiebelhaus in Meschede. Der zweite Sohn Anton, der dann als Erbe vorgesehen war, fiel im ersten Weltkrieg. Auch Sohn Franz verzichtete und nahm das Erbe nicht an.

Dann, nach langem Leiden, verstarb im November 1921 Theresia, Ignaz Frau. Die Tochter Johanna führte aber weiter seinen Haushalt und heiratete zwei Jahre danach Kaspar Wrede, der in das Haus seines Schwiegervaters Ignatz einzog. Kaspar war Waldarbeiter beim Baron von Weichs, konnte aber später auch Beschäftigung bei der Reichsbahn finden. Das Ehepaar Wrede trat das Erbe von Ignaz Schulte an. Dieser war mit der Tatsache sehr zufrieden, dass mit den Enkelkindern wieder Leben in das Haus einkehrte. 

 


Zur 80jährigen Geburtstagsfeier von dem verwitweten Ignaz Schulte am 22. Juli 1927  traf sich seine große Familie. Er fühlte sich, umgeben von seinen Kindern, Schwieger- und Enkelkindern sichtlich wohl. Links im Bild erkennen wir sein Ziehkind Fritz Schulte mit seinen ältesten Kindern, den Söhnen Josef und Franz. In der Tageszeitung wurde anlässlich dieses Festtages der Jubilar mit folgenden Worten gewürdigt: 

"Hohes Alter: In voller körperlicher und geistiger Frische vollendete der Veteran von 1870/71 Ignaz Schulte sein 80. Lebensjahr. Trotz seines hohen Alters versieht er noch immer seinen Dienst auf Station Wenne."


Für Ignaz persönlich war es immer ein richtiger Entschluss gewesen, das Anwesen für seine Nachkommen zu erhalten. Er hegte darüber keine Zweifel. Doch man bedenke:  Die Zeiten ändern sich und keiner kann vorhersehen und nur bedingt bestimmen, wie die Zukunft aussieht.

So stellt sich am Schluss die Frage auf die es noch keine Antwort gibt: "Wie lange wird „Andreas Haus“   noch am Ufer der Wenne stehen?"

Hinweis:  Mein Bericht über Andreas Haus an der Wenne wurde erstmals im September 1992 im Homert-Kurier unter der Rubrik "Ein paar Minuten Heimatgeschichte" veröffentlicht. Der nun vorliegende ist stark überarbeitet und ergänzt worden. Er wird für die Weihnachtsausgabe 2017 des "Esselboten" wiederum in Druck gehen.