Meuchlerisch erschossen am Polizeiweg


Ein ungeklärter Mordfall im 19. Jahrhundert

Der „Polizeiweg“ ist seit seiner Erbauung eine Verbindung zwischen dem Wenner Stieg mit der Landstraße L 541 in das Tal der Wenne 1). Er ist heute ein schöner Waldwirtschaftsweg, der auch dem Wanderer als angenehme Abkürzung dient. Vom Grün umsäumt zeigt er sich als schöner Wanderweg, der nicht erahnen lässt, dass sich hier vor langer Zeit eine mörderische Tat ereignet hat über deren Hergang lange Zeit Gerüchte kursierten und über dessen Motiv gerätselt und gemutmaßt wurde.

Der Polizeiweg wie er sich heute zeigt. Hier erinnerte einst ein halb verfallenes Holzkreuz an einen heimtückischen Mordfall.
Der Polizeiweg wie er sich heute zeigt. Hier erinnerte einst ein halb verfallenes Holzkreuz an einen heimtückischen Mordfall.

Zur Erinnerung war da ein Kreuz

 

Noch in den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts stand ein halb verfallenes Holzkreuz am oberen Ufer des Weges, unweit an der Einmündung in den Wenner Stieg (unterhalb der heutigen Bundesstraße 55). Um dieses geheimnisvolle Kreuz herum ranken viele Geschichten. Der Esloher Pfarrer Johannes Dornseiffer 2) berichtete einst, dass dieses Kreuz mit einer Inschrift versehen war: „Zum christlich frommen Andenken an den Freiherrn Caspar von Wrede zu Blessenohl, welcher 1832 am 23. November hier todt gefunden ward.“ Der geschichtsinteressierte Pfarrer vermerkt weiter: „Es soll ein Mord vorliegen“. Diese vorsichtige Anmerkung begründet sich daraus, dass der Mörder auch Jahrzehnte später nicht eindeutig ermittelt und somit nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte.

 

Heinrich Heymer 3) weiß in seinen Aufzeichnungen zu berichten, dass insgeheim ein junger Mann aus Wenholthausen verdächtigt wurde, der zufällig in der Frühe des der Mordnacht folgenden Tages sich auf dem Weg machte, um nach Amerika auszuwandern. In einer Zeit, wo Telefon und Telegraph noch nicht erfunden waren, konnte man die Verfolgung nicht aufnehmen, sodass der Verbleib des jungen Mannes nicht auszumachen war. Lange Zeit hätte man ihm durch die Verdächtigung Unrecht getan. Seine Abreise wurde von der Öffentlichkeit als Flucht vor der gerechten Bestrafung gewertet, bis sich nach vielen Jahren angeblich der Meuchelmord aufgeklärt hatte:
Es wird berichtet, dass der alte Förster von Gut Blessenohl auf dem Sterbebett lag. Dort enthüllte dieser, dem letzten Gericht ins Angesicht sehend, sein Geheimnis. Sein Brotherr, der Freiherr von Wrede, habe ihm einst seine einzige jugendliche Tochter verführt und verdorben. Aus Rachegelüsten habe er seinem Dienstherrn hinter einem Chausseebaum aufgelauert, als dieser vom Dämmerschoppen beim Schultheißen in Eslohe 4) kommend, sehr spät heimwärts ritt. Als der Reiter dann in dem Hohlweg (Polizeiweg) verschwand, habe er auf den „Unhold“ mit seiner Waffe angelegt und hinterrücks erschossen. Der Getötete sei aus dem Sattel geglitten und das Reitpferd von dannen galoppiert. 

Das ehemalige Rittergut Blessenohl im Wennetal (Foto von 1949)
Das ehemalige Rittergut Blessenohl im Wennetal (Foto von 1949)

Am Wahrheitsgehalt dieser Überlieferung bestehen Zweifel, da auch eine andere Version der mörderischen Tat bekannt wurde 5):
In einer mondhellen Nacht sah ein Grevensteiner Kleinlandwirt vor dem Zu-Bett-Gehen noch einmal nach seinen Schafen im Stall, von denen eines Nachwuchs bekommen sollte. Im schwachen Mondlicht tastete sich der Mann ohne Laterne zu seinen Tieren vor, als durch die Stalltür erregte Stimmen an sein Ohr drangen. Er wurde Zeuge eines verbrecherischen Planes. Drei Männer, von denen er einen an der Stimme als den Förster von Gut Blessenohl erkannte, planten einen Mord. Die beiden Fremden warben den Förster als Killer an; sie boten ihm Geld für die Ermordung seines Dienstherrn. Damit er nach der Tat verschwinden könne, erhöhten sie das Blutgeld um den Preis der Auswanderung nach Amerika. Konkrete Pläne wurden geschmiedet. Das Mondlicht erschien ihnen ausreichend, von einem bestimmten Apfelbaum des zum Gut gehörenden Obstgartens den Gutsherrn durch das Schlafzimmerfenster im Bett zu erschießen.
Der Ohrenzeuge verhielt sich ruhig. Was sollte er von diesem Handel halten? Vielleicht war ja alles nur dummes Zeug. Als draußen Ruhe herrschte, legte er sich ins Bett, in der Hoffnung, es möge nichts passieren.  Der mörderische Plan indes kam zur Ausführung. Die Entfernung zwischen Auftragsort und Tatort war nicht weit; der kürzeste Weg führte durch den Wald. Weisungsgemäß feuerte der Förster den Schuss ab, verfehlte jedoch das schlafende Opfer. Der Täter vermochte die Wirkung des Schusses wohl nicht zu erkennen und verschwand unerkannt in seiner Gutswohnung und verkroch sich ins Bett. Da erschien auch schon der bedrohte Herr, um den vermeintlich Schlafenden um Hilfe zu bitten. Im Morgengrauen machten sich beide auf den Weg nach Eslohe, um den Fall der Polizei zu melden. Kurz vor dem Wenner Stieg, so wird berichtet, musste Caspar von Wrede noch schnell „in die Büsche“. Diese Gelegenheit nutzte der Förster und erschoss seinen eigenen Herrn. 

Hauptgebäude Gut Blessenohl zur Weihnachtszeit
Hauptgebäude Gut Blessenohl zur Weihnachtszeit
Briefumschlag, gerichtet an Herrn Freiherrn Maximilian Kleinsorgen, Hochwohlgeborenen Blessenohl bei Eslohe
Briefumschlag, gerichtet an Herrn Freiherrn Maximilian Kleinsorgen, Hochwohlgeborenen Blessenohl bei Eslohe

Das Gut Blessenohl um 1920
Das Gut Blessenohl um 1920

Ein Säugling auf der Gutstreppe

 

Die Darstellungen unterscheiden sich erkennbar voneinander, was sowohl Tatmotiv, Hergang und Zeitpunkt des heimtückischen Mordes betrifft. Deshalb ist den Erzählungen wenig Glauben zu schenken. Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte von Gut Blessenohl, um eine andere Sicht auf die Geschehnisse zu erhalten.   


Freiherr Caspar von Wrede, geboren am 4.9.1793, war der jüngste Spross aus dem Hause der Landadeligen von Wrede in Amecke. Sein Vater war früh verstorben und als seine Mutter diesem nachfolgte war Caspar zwanzig Jahre alt und hatte in Münster ein Studium begonnen. Nach dessen Abschluss 1819 geht er die Ehe mit der in Herdringen geborenen Antoinette von Fürstenberg ein. Zuvor, im Jahre 1816, erwirbt Caspar von Wrede, finanziert aus dem Nachlass seiner Mutter, von der Familie Schade das Rittergut Blessenohl für einen Kaufpreis von 16.600 Reichstaler. Aus der Ehe mit Antoinette gehen vier Kinder hervor. Der jüngste Sohn wird 1824 geboren.


Im Morgengrauen eines Frühlingstages des Jahres 1825 findet eine Hausbedienstete auf Gut Blessenohl einen Säugling auf den Treppenstufen des Haupthauses. Das wirft sogleich Fragen auf, weil dieser Fundort unüblich ist, denn bevorzugte Plätze einer Kindesaussetzung ist eine Kirchentür oder die Klosterpforte. Der kleine Junge wird noch am gleichen Tag vom Wenholthauser Pfarrer Ahlbach getauft und erhält den Namen Anton Blessenohl 6). Die Eheleute Heinrich Christoph Ferdinand Löher und Magdalene, geborene Hengsbach, aus Wenholthausen nehmen das Findelkind, obwohl zehn leibliche Kinder vorhanden, als Pflegekind auf.

 

Weil sich für die Öffentlichkeit jahrelang alles in Schweigen hüllt und nicht bekannt wird, wer Vater und Mutter des Kindes ist, wird in der Bevölkerung gemutmaßt: Caspar von Wrede habe ein Verhältnis mit einer Kammerzofe im Hause Blessenohl gehabt und aus dieser Liaison sei das Kind entstanden. Als später der Mord an dem Freiherrn geschieht, wird erst recht wieder das Gerücht aufgefrischt. Der gesamte Nachlass des Verstorbenen steht bald zum Verkauf. 1834 erwirbt Maximilian Friedrich Franz Joseph von Kleinsorgen aus Schüren das Rittergut und zieht von Schüren nach Blessenohl 7).


Das Gut um 1925: Im Vordergrund das Försterhaus, 1911 neu erbaut und 1983 beim Straßenneubau abgerissen
Das Gut um 1925: Im Vordergrund das Försterhaus, 1911 neu erbaut und 1983 beim Straßenneubau abgerissen

 

Ein Priester will aufklären

 

Nachfolger des 1838 verstorbenen Pfarrers Ahlbach wird der gerade zum Priester geweihte Michael Kleinsorge, vermutlich abstammend und vermittelt aus dem erweiterten Familienkreis des Käufers von Gut Blessenohl. Dem bleiben die Gerüchte um die Vorgänge nicht verborgen und so ist es schlüssig, dass er sich um die Erforschung der Herkunft des mittlerweile herangewachsenen Anton Blessenohl bemüht, vielleicht auch eine Verpflichtung darin sieht.

Er findet schließlich in Hachen (Pfarrei Enkhausen) die Mutter des Findelkindes, deren er seine priesterliche Hilfe anbietet und darüber absolutes Schweigen vereinbart. Schließlich hatte sich diese auch strafrechtlich ins Unrecht gesetzt 8).

 

 

Aber wer war der Vater des Kindes? So sehr die Erkenntnis darüber im Dunkeln lag, für die Nachbarn im Wennetal ist es „ein offenes Geheimnis“: Caspar von Wrede hat das Kind außerehelich gezeugt, sich nicht um das Kind gekümmert und nie die Vaterschaft anerkannt!

 

Nahrung bekommt alles durch die Vorkommnisse auf Gut Blessenohl, die sich nach dem Auffinden des Kindes 1825 dort ereignen. Das vormals gute Verhältnis zwischen Caspar von Wrede und seinem Schwiegervater, dem Reichsfreiherrn Friedrich Leopold von Fürstenberg, zerbricht und erkennbar tritt auch eine „seltsame Veränderung“ in der Beziehung zwischen den Eheleuten von Wrede ein 9). Dieses Zerwürfnis führt schließlich zur Scheidung der Eheleute. Antoinette verlässt mit ihren Kindern Gut Blessenohl und dem in Ungnade gefallenen Freiherrn wird der Geldhahn abgedreht, was ihn zudem auch in den finanziellen Notstand bringt und ihm sprichwörtlich den Boden unter den Füßen entzieht. Er wird ein isolierter und ungeselliger Eigenbrötler bis man ihn, 39 Jahre alt, am Wenner Stieg „meuchlerisch erschossen“ auffindet.


Anfangs ging man von einem tragischen Unglücksfall aus, bis sich später eine Mordtat als Todesgrund als gesichert herausstellte 10) Im Sterberegister der Pfarrei Wenholthausen ist eingetragen: „13. November 1832, morgens 5 Uhr, Caspar von Wrede, meuchelmörderischer Weise erschossen; beerdigt am 15. November in Wenholthausen.“

Das Försterhaus von Gut Blessenohl um 1970. Der vermeintliche Mörder wohnte hier jedoch nicht.
Das Försterhaus von Gut Blessenohl um 1970. Der vermeintliche Mörder wohnte hier jedoch nicht.

Lange Zeit vermutete man einen Mordauftrag aus höchsten Adelskreisen. Dafür ließen sich damals auch Gründe konstruieren, die aber niemals nachzuweisen waren und vielleicht auch nicht aufgedeckt werden sollten. Dass der „Leibförster“ des Freiherrn der heimtückische Mörder gewesen sein soll, ist nicht erwiesen, auch da es keine Untersuchungsunterlagen gibt. Es scheint kein Interesse da gewesen zu sein, den Fall aufzuklären.


Da das Tatmotiv für die Öffentlichkeit nie eindeutig erkennbar war, beflügelte das die Phantasie der Menschen und ließ Gerüchte entstehen. So berichtete einst auch ein älterer Mann aus Bremke, dass in seinem Hause lange Zeit die Mütze des Mordopfers Caspar von Wrede aufbewahrt sei. Über dem Mützenschirm soll sich ein Loch befunden haben, welches die Vermutung nahelegte, dass der Schuss aus kürzester Entfernung abgefeuert wurde. Bis um 1930 habe die Mütze auf dem Kornboden gehangen. Als Lehrer Hugo Dirks in der Bremker Schule einmal dieses heimatgeschichtliche Ereignis behandelte, wollte ein Junge das Corpus Delicti holen, um es den anderen Kindern in der Klasse zu zeigen. Da bemerkte er, dass das lang gehütete Stück verschwunden war.


Verschwunden ist auch das Kreuz am Polizeiweg, welches lange Jahre an die ruchlose Tat erinnerte. Der Zahn der Zeit hat es zerstört und niemand sah sich dazu veranlasst, es zu erneuern.  


Anhang:

1 . Nach der Überlieferung verdankt er seinen Namen dem Umstand, dass er einst von Strafgefangenen unter Polizeiaufsicht erbaut sein soll.
2.  Pfarrer Dornseiffer: Geschichtliches über Eslohe, 1896 erschienen, Seite 249
3.  Heinrich Heymer (* 1898 + 1966), Bauer auf dem Schultenhof in Sallinghausen, war Dorfchronist und hinterließ der Nachwelt einige interessante Aufzeichnungen
4.  Das Amt eines Schultheißen wurde damals von der Hessischen Regierung eingeführt, von den Preußen später wieder abgeschafft. Sie hatten ähnliche Befugnisse wie später die Amtmänner. Zur Zeit des Mordes 1832 gab es die Schultheißen nicht mehr. Dennoch wurde der Gastwirt Peter Böhmer in Eslohe noch mit seinem ehemaligen Amtstitel benannt (Pfarrer Dornseiffer: Geschichtl. über Eslohe, Seite 210)
5.  Reinhold Hesse, Wenholthausen: Homert-Kurier im Rahmen der Serie „Ein paar Minuten Heimatgeschichte“, Ausgabe vom 18.04.1992
6.  Den Vornamen erhielt er üblicherweise vom Taufpaten Anton Albers, den Familiennamen (Nachname) erhielten Findelkinder früher nach der Ortsbezeichnung, dort wo sie gefunden wurden.
7.  Bernd Kirschbaum im Südwestfalen Archiv, Jahrgang 2014, Seite 188
8.  Heinrich Josef Deisting im Südwestfalen Archiv, Jahrgang 2014, Seite 158: Nach altem Recht galt die Aussetzung eines Kindes nach der Taufe als Mord
9.  Das zeigt sich in den noch erhaltenen Briefwechseln zwischen dem Hause von Wrede und von Fürstenberg aus dieser Zeit. Hugo Blessenohl, Bochum, ein Nachfahre des Findelkindes, hat 1995 die „Beiträge zur Geschichte der Familie und des Herrenhauses Blessenohl“ geschrieben und jahrelang Nachforschungen dazu gemacht.
10. Der Historiker Albert K. Hömberg zitierte später aus den um 1870 gedruckten „Blätter zur näheren Kunde Westfalens“ wo diese Tatsache als eindeutig vermerkt ist: „auf dem Wege von Blessenohl nach Eslohe meuchlerisch erschossen“.

 

Bildbeiträge:

Archiv Wilhelm Feldmann, Sallinghausen
Archiv DampfLandLeute-Museum Eslohe
Archiv Dieter Gurni, Arnsberg

 

Gut Blessenohl um 1925
Gut Blessenohl um 1925
Zeichnung vom Gutshaus aus dem Jahr 1949
Zeichnung vom Gutshaus aus dem Jahr 1949