Ein Glöckchen für Kartoffeln, Eier und Weizenmehl


Es ist nun schon mehr als siebzig Jahre, also ein ganzes Menschenleben her, dass der II. Weltkrieg sein trauriges Ende nahm. Viel, sehr viel, wurde in den vergangenen Jahrzehnten über diese Zeit geschrieben, denn diese traumatischen Erlebnisse können nicht zu den Akten gelegt werden. Es ist überaus wichtig, sie wieder ins Bewusstsein derer zurückzurufen, die sie verdrängen wollten, aber ebenso eine Mahnung für diejenigen, die diese Zeit nicht miterleben konnten.

Es ist die Zeit der Kriegswirren aber auch die Lebensumstände in den Jahren unmittelbar danach die den nachfolgenden Generationen mahnend bewusst sein sollten. Doch der Spiegel dieser Zeit ist trübe geworden, hat Risse bekommen und somit ist heute vieles aus der Erinnerung verschwunden. Die Menschen, die diese harte Zeit miterleben mussten, verabschieden sich nach und nach aus unserer Gegenwart. Deren Geschichte geht verloren, auch weil viele sich nicht dazu in der Lage befanden, ihre traumatischen Erlebnisse zu erzählen. Andere aber empfanden es als eine Befreiung, immer wieder von den Ereignissen zu berichten. Dazu zählen unzählige erlebte Anekdoten, die zur Durchleuchtung der besonderen Lebenssituation in dieser Zeit beitragen konnten.

Antonius Fischer, „Knievel’s Tünnes“ genannt, wurde geboren am 21.10.1915, starb am 11. Januar 1997.  Foto um 1950
Antonius Fischer, „Knievel’s Tünnes“ genannt, wurde geboren am 21.10.1915, starb am 11. Januar 1997. Foto um 1950

Eine solche Anekdote aus der Nachkriegszeit wurde dem Verfasser dieser Zeilen von dem Zeitzeugen selbst zugetragen. Es ist der Erlebnisbericht des Zeitzeugen Antonius Fischer aus Isingheim. Die plattdeutschen Heimatfreunde in Eslohe und Umgebung, kannten ihn als ,,Kniewels Tünnes". Dieser hatte seine ganz persönlichen Nachkriegserlebnisse als Folge der glockenlosen Kriegszeit in seinem Heimatort Isingheim. Als Antonius Vater im November 1942 starb, konnte die Angelusglocke in der im 17. Jahrhundert erbauten Isingheimer Dorfkapelle nicht geläutet werden, da sie bereits beschlagnahmt und aus dem Turm geholt war. Doch dann stand sie noch tagelang an der Bundesstraße, bis sie irgendwann abgeholt wurde um für die Herstellung von Kriegswaffen eingeschmolzen zu werden. Vielleicht wurde sie auch erst einmal auf den ,,Glockenfriedhof" in Lünen gebracht. Nach Kriegsende fand man dort Unmengen von achtlos abgestellten Glocken, von mannshohen Brennnesseln und Unkraut umwuchert, vielfach beschädigt, ineinander gestülpt, herrenlos. Da wurde klar: Die Requirierungen dienten den Nazis vielfach nur, um damit die Kirchen zu demütigen und ihren Hass auf diese zu zeigen.

Auf ,,Fickeltünnes", dem Isingheimer Patronatsfest im Januar 1946, saßen nach der Messfeier der Esloher Gottesdiener Dechant Grauheer, Lehrer Demmerling und einige Isingheimer Männer beim gemütlichen Kartenspiel in Fischers guter Stube beisammen. Schnell kam das Gespräch auf den glockenlosen Zustand der Kirchengemeinde. Pfarrer Grauheer teilte mit betrübter Miene mit, dass er seit einiger Zeit schon für die Kapellen in Isingheim, Sallinghausen, Niedereslohe und Sieperting bei der Erzbischöflichen Glockengießerei in Brilon neue Glocken bestellt habe. Dort sei er jedoch mit dem Hinweis vertröstet worden, er müsse sich in Geduld üben. Mit zwei Jahren Lieferzeit müsse er mindestens rechnen. Die vielfältig schwierigen Lebensumstände in dieser Nachkriegszeit waren dem ungeduldigen Kirchenmann zwar sehr bewusst, - aber jetzt noch weitere zwei Jahre Verzicht auf Glockengeläut einfach tatenlos hinnehmen? Mutter Fischer konnte ihm da nur beipflichten und schnell war abgemacht: Ihr Sohn Antonius soll nach Brilon fahren. Im Mai 1946 war es dann soweit. Im Büro der Glockengießerei Humpert angekommen, wurde Antonius, nachdem der die Frage, ob er Kupfer, Messing oder Zink besorgen könne, verneinen musste, höflich aber bestimmt abgewiesen. Bei den Arbeitern hatte er mehr Glück. Diese teilten ihm mit, dass in den nächsten Tagen zwei Glocken fertiggestellt wären, wovon eine noch zu haben sei. Sie bestünde zwar nicht aus bestem Material, das müsse man wohl in dieser Zeit in Kauf nehmen, schön sei sie gerade auch nicht, aber die Größe stimme. Auf die Frage, was dieses hässliche Neugeborene denn kosten solle, wurden die konkreten Vorstellungen der Glockengießer schnell offenkundig: ,,Pfingsten steht vor der Tür. Da wollen wir uns mal wieder richtig satt essen und feiern. Bringe uns 60 Pfund Weizenmehl, 6 Brote, 3 Ztr. Kartoffeln, 6 Pfund Butter und 45 Eier und das Glöckchen gehört dir."

St. Antonius-Kapelle in Isingheim
St. Antonius-Kapelle in Isingheim

In Isingheim angekommen, unterrichtete Antonius seine nächsten Nachbarn. Die gesamte Dorfbevölkerung und auch die dazugehörigen Nachbarn aus Lüdingheim und Bockheim brachten in kürzester Zeit die benötigten Mittel zusammen. Den Weizen ließ man in der Cobbenroder Mühle mahlen und die Bäckerei Richard in Bremke stellte für sog. Tankholz ihren Holzkocher-LKW nebst Fahrer zur Verfügung. um den Transport durchzuführen. So waren die Isingheimer stolz, dass es ihnen als Erste in der Kirchengemeinde gelungen war, wieder eine Kapellenglocke ihr Eigen zu nennen. Am Pfingstmontag, den 9.6.1946, war es dann auch eine besondere Freude für Pfarrer Grauheer, die mit Fichtengrün geschmückte Glocke feierlich zu weihen. Nach den trostlosen Kriegsjahren nutzten nun die Isingheimer diesen Anlass besonders, um Feststimmung aufkommen zu lassen. Manches Glas vom guten „Nachkriegsbier" wurde getrunken und die Musik spielte auf. Die Isingheimer leisteten sich zur Feier des Tages für 150 Reichsmark die Kapelle ,,Schnabel", benannt nach ihrem Kapellmeister Fritz Schnabel aus Cobbenrode.

Recht schnell sprach sich die gelungene Glockenbeschaffung auch in den “glockenlosen“ Nachbarorten herum. Von der Roggenernte heimgekommen, stellte Antonius Fischer fest, dass im Hofe eine fremde Kutsche nebst Pferd eingeparkt hatte. Franz Mathweis aus Sallinghausen wartete bereits in der Stube auf ihn und teilte dann auch recht bald sein Ansinnen mit. Er zog einen Hundertmark-Schein aus der Tasche. Den solle Antonius doch für die Bahnfahrt nach Brilon und zurück verwenden. Die Sallinghauser wären ihm sehr verbunden, wenn er ihrer Bitte nachkommen könne und nochmals sein Glück versuche, eine Glocke für deren Kapelle zu besorgen. Als dann Tage später Josef Padberg aus Sieperting, Kriegsversehrter aus dem 1. Weltkrieg, ebenfalls an ihn herantrat, stellte sich schnell heraus, dass Pfarrer Grauheer ihn überall wärmstens zur Bewältigung dieser speziellen Aufgabe anempfohlen hatte.

Die alte Dorfkapelle St. Antonius in Sallinghausen, 1953 abgerissen und an anderem Standort neu errichtet
Die alte Dorfkapelle St. Antonius in Sallinghausen, 1953 abgerissen und an anderem Standort neu errichtet

Die darauffolgende Fahrt zur Glockengießerei nach Brilon bescherte ihm wiederum einen erfolgreichen Geschäftsabschluss. Für 60 Pfund Weizenmehl, 6 Brote und 6 Ztr. Kartoffeln für jede Kapellenglocke wurde per Handschlag das Geschäft besiegelt. Da der Herbst 1946 eine gute Obsternte brachte, legten die Sallinghauser obendrein noch 2 Ztr. Äpfel bei. Antonius Fischer und der Sallinghauser Mühlenpächter Hacke fuhren mit dessen LKW nach Brilon und holten beide Glocken ab. Unterwegs, so erinnert sich Antonius amüsiert, musste er Schimpfe von Hacke beziehen. Was er sich denn um Anderleute Glocken zu kümmern hätte. Das ginge ihm doch wohl nichts an. Jetzt müsse er wieder regelmäßig dreimal am Tag die Glocke läuten; eine im Grundbuch eingetragene Verpflichtung. Das sei ihm lästig und passe ihm deshalb nicht in den Kram.

Am 27. September 1946 feierten die Sallinghauser ihre Glockenweihe. Die 54 Pfund schwere Bronzeglocke bimmelte dann noch fast sieben Jahre im Turm der alten, aus dem 17. Jahrhundert stammenden Dorfkapelle. Diese wurde 1953 abgerissen. Das Glöckchen wechselte dann 1954 in die neu erbaute Kapelle.

Auch heute noch sind es diese Nachkriegsglocken, die uns mit ihrem tagtäglichen, jetzt elektrischen Geläut begleiten. Sind sie auch aus gestrecktem, minderen Material geschaffen, schmucklos und im Klang mit ihren edleren Vorgängern nicht zu vergleichen, so wollen wir sie, genau wie die geschichtsträchtige und von Umwälzungen geprägte Nachkriegszeit, der sie entstammen, nicht missen.


Und so entsteht eine Glocke:

Um eine Glocke mit einem exakt bestimmten Schlagton gießen zu können, wird zuerst die mit komplizierten Formeln errechnete Form auf Holz aufgezeichnet und ausgeschnitten. Mit dieser Schablone ist es dann möglich, eine Glockenform aus Lehm herzustellen. Zuerst wird der innere Kern, also der spätere Hohlraum, aufgemauert und mit Hilfe der Schablone geglättet. Auf diesen Kern wird die sogenannte „falsche Glocke“ oder „Dicke“ geformt. Der dritte Formteil, den man aufträgt, heißt Mantel. Er ist durch eine Wachsschicht von der „falschen Glocke „getrennt, auf die Schriften, Bilder und Verzierungen der späteren Glocke aufgesetzt wurden. Durch einen Brennvorgang verschwindet die Wachsschicht der falschen Glocke, so dass sich der Mantel abheben lässt. Seine Innenseite zeigt alle Inschriften im Negativ auf. Danach hat die falsche Glocke ausgedient und wird entfernt. So entsteht zwischen Mantel und Kern ein Hohlraum, in den 1100 Grad Celsius heiße, flüssige Bronze gegossen wird: die spätere Glocke!


Das Hintergrundbild zeigt vier neue Glocken für die Pfarrkirche in Reiste.