Ein gutes Blatt Geschichte


Die Kultur des Sauerlandes mit den so typischen eigenen Besonderheiten hat ihre erkennbare Eigenidentität über Generationen hinweg in weitem Maße erhalten können. Ihre regionale Bedeutung wird heute zunehmend in positiv zu wertender Weise anerkannt. Kultur besteht nach landläufiger Meinung hauptsächlich aus Kunst und Literatur; jedoch sind es die Lebensweisen einer Gesellschaft, die den Wert ihrer Kultur ausmachen. Die Überlieferung von gesellschaftlichen und religiösen Wertvorstellungen und Normen, von Lebensgewohnheiten und Sitten jedes Einzelnen und der Gemeinschaft, die Sprache, der Geschmack und die Bräuche sind wesentliche Teile unserer lokalen ländlichen Kultur. Sie ist Tradition. Eine lebendige und freie Kultur besteht somit aus mehreren Elementen. Dazu gehören insbesondere alle Einflüsse von ‚außen‘, die lokalen Neuschöpfungen, also die Gegenwartsgeschichte und ebenso entscheidend, jedoch oft unterschätzt, die Überlieferungen als Erbteil aus der Vergangenheit.

Eine Gesellschaft sollte die Fähigkeit besitzen, Erinnerungen wachzuhalten, sich zurückzubesinnen und Nutzen aus vergangenen Erfahrungen zu ziehen. Was ihr gut und nützlich erscheint oder was überflüssig und unheilvoll für sie ist zu erkennen. Geschichte ist die Erinnerung eines Volkes, aber auch einer Dorfbevölkerung, einer Familie, von Jedermann. Geschichte ist Erinnerung an einen Weg durch die Zeiten, ist gespeichertes Gedächtnis. Wer es in sich trägt, hat eine Aufgabe zu erfüllen; die Aufgabe des Älteren gegenüber den Jüngeren: Helfen zu verstehen, warum es wichtig ist, die Erinnerung an Vergangenes wachzuhalten. Geschichte vermitteln, Gedankengut überliefern und somit Wissenswertes erhalten. Doch sind wir dazu bereit? Sind die Zeiten des Erzählens und des Zuhörens nicht längst vorbei? Ersetzen nicht in zunehmendem Maße die Medien das Gespräch im Kleinen, sind Ersatz für so manches notwendige Zwiegespräch?

Der Gedankenaustausch im Gespräch, die Kunst des Erzählens und des Zuhörens verkümmert zusehends. Die tagtägliche Informationsflut, die über uns Medienmenschen der Neuzeit hinwegbraust, macht uns taub für die kleinen erinnerungswerten Anekdoten unserer näheren Umwelt. Selbsterlebtes und überliefertes Gedankengut schleppen wir alle mit uns herum. Doch es fällt auf, dass gerade ältere Menschen ihre Sprachlosigkeit überwinden. Das Langzeitgedächtnis funktioniert häufig auch dann noch, wenn Vergesslichkeit ihr tägliches Leben behindert. Es drängt sie förmlich aus Kindheit und Jugend zu berichten. Dagegen stehen die Worte aus dem Munde jüngerer Menschen, wenn Großeltern oder Eltern von vergangenen Zeiten erzählen: „Schon wieder diese alten Geschichten!“

Doch diese Erzählungen haben Tradition, ob als Bettgeschichten oder zur Unterhaltung am Herdfeuer. Sie dienten in fernsehlosen Zeiten der Zerstreuung und zur Muße, prägten sich ins Gedächtnis ein und wurden so zur Überlieferung im wahrsten Sinne. Geschichten wurden so über mehrere Generationen hinweg weitererzählt und der Nachwelt erhalten ohne jemals in schwarzen Lettern gedruckt zu sein. Manche Familien- oder Dorfchronik kann ihren Bezug auf Überlieferungen nehmen. Die ernsthaft betriebene Geschichtsforschung bezieht hier sicherlich nicht ihre Quellen. Doch die vielen überlieferten Geschichten besitzen eine Kernaussage, auch wenn im Laufe der Zeit von Mund zu Mund gehend Verfälschungen nicht auszuschließen sind. Sie bleiben aber eine wertvolle Bereicherung der Heimatgeschichte, auch wenn sie von Profis nicht selten belächelt werden. Denen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, die Heimatgeschichte in Wort und Bild zu dokumentieren und der Nachwelt für immer zu erhalten, schätzen deshalb den Wert dieser Überlieferungen und empfinden Dank denen gegenüber, die wesentlich zu deren Übermittlung und Verbreitung beigetragen haben.


Lebensgeschichten

So soll nun stellvertretend für viele, hier die Lebensgeschichte zweier Menschen vorgestellt werden, die zwar längst von dieser Welt gegangen sind. Ihre Erzählungen und Aufzeichnungen aber haben sich bis heute erhalten. Versetzen wir uns deshalb an einen kalten Winterabend in die Zeit kurz nach der Jahrhundertwende In Sallinghausen auf dem Hof des Bauern Eberhard Heymer und dessen Ehefrau Elisabeth, geb. Schulte aus Eslohe, ist das Tagwerk getan. Das Vieh ist versorgt. Die Magd räumt noch den Tisch vom Abendbrot. Nun versammelt sich die Familie in der warmen Stube, wo das Feuer im Kamin gemütlich prasselt. Die ältesten Kinder der Eheleute, die Töchter Maria und Elisabeth, sowie der Sohn Heinrich, dürfen noch eine Weile aufbleiben. Sie genießen wie alle Kinder die viel zu kurze Zeit vor dem Schlafengehen. Knecht und Magd gesellen sich hinzu. Vater liest ein Buch im fahlen Licht der Petroleumleuchte.

Bernhardine Eickhoff auf dem Schultenhof in Sallinghausen
Bernhardine Eickhoff auf dem Schultenhof in Sallinghausen

Doch inmitten dieser Runde, im Ohrensessel ruhend, sitzt die Tante Bernhardine Eickhoff. Weit über siebzig Jahre alt ist sie immer noch Mittelpunkt der Familie. Ihre besondere Aufmerksamkeit widmet sie den Kindern. Nun im hohen Alter kann sie sich glücklich schätzen, sie in ihrer Nähe zu sehen. Ihr selbst wurde der Kinderwunsch zeitlebens nicht erfüllt. Ein Hof ohne Kinderstimmen, so hatte sie die vergangenen Jahrzehnte erleben müssen. Nun sah sie sich umringt von diesen drängenden Kleinen. „Tante, erzähl uns eine Geschichte.“ Nur zu gerne erfüllt sie ihnen diesen Wunsch. Diese langen Winterabende sind wie geschaffen dafür, die Gedanken in vergangene Zeiten zu versenken. Sie erhebt ihre noch energische, aber doch liebenswürdige Stimme und beginnt zu erzählen.

Sie berichtet aus ihren eigenen Kindertagen in Bremke, dort wo sie auf dem Hof Göbel gnt. Dömmecke am 12.8.1834 geboren wurde. Mit zwanzig Jahren heiratete sie in den Hof des Gutsbesitzers Eickhoff gnt. Schulte in Sallinghausen ein. Feuchte Augen bekommt sie, wenn sie aus diesen glücklichen Tagen berichtet. Die Heirat mit dem damals 34-jährigen Everhard Eickhoff war eine, wie man zu sagen pflegt „gute Partie“. Die Schwiegereltern Caspar und Theresia Eickhoff hatten diesem bereits 1848 als 28jährigen das Vermögen übertragen. Wenige Jahre zuvor war die Hofstelle vollständig erneuert worden. Ihrem Mann, der hohes Ansehen in der Bevölkerung genoss und viele öffentliche Ämter bekleidete, war sie eine ständige Beraterin. So erhielt sie Einblick in viele Dinge des öffentlichen Lebens, prägte ihr Weltbild über die Maßen hinaus, die üblicherweise bei der täglichen Aufgaben-bewältigung einer Landfrau verborgen bleiben. Als im Oktober 1894 ihr Ehemann nach langer schwerer Krankheit verstarb, war Bernhardine erst fünfzig Jahre jung. Sie hat dennoch nie wieder geheiratet. Mit den Problemen der Bewirtschaftung eines Hofes wurde sie aber nicht allein gelassen. Ihr Mann hatte, wie es seinem Naturell entsprach, vorgesorgt. Bereits 1885 setzte er, da kein leiblicher Erbe vorhanden, den Sohn seiner jüngsten Schwester Theresia, den Eberhard Heymer aus Estinghausen bei Sundern testamentarisch zum Universalerben ein. Dieser übernahm nun den Hof und bezog Bernhardine voll in das Familienleben mit ein. Nun nutzte sie ihre Zeit für ihre Interessen, der Familiengeschichte und altem Brauchtum. Ein gesundes Maß an Neugierde war ihr immer schon zu Eigen gewesen. Ein gutes Gedächtnis, welches bis ins hohe Alter nie versagte, brachte ihr den Ruf als lebendige Dorfchronik ein. So sind mit ihr nicht nur ihre eigenen Erlebnisse, vielmehr viele Dorfereignisse aus frühester Zeit, die sie in Gesprächen mit Altvordern erfahren hatte, mündlich überliefert worden. So wie an diesem kalten Winterabend wusste Bernhardine ihre kleinen und auch großen Zuhörer mit ihren Erzählungen immer wieder in den Bann zu ziehen. Auf besonders fruchtbaren Boden vielen diese bei dem jungen Heinrich Heymer. „Wenn Bernhardine Eickhoff erzählte, hörte ich immer mit größtem Interesse zu“, schrieb dieser später.


Nichts Nigges, Herr Nachbar?

Heinrich Heymer, so wie ich ihn kannte (Foto um 1960)
Heinrich Heymer, so wie ich ihn kannte (Foto um 1960)

 

Heinrich Heymer gnt. Schulte (1898-1966)

 

wurde im ersten Weltkrieg zum Militärdienst einberufen. Die Tante, Bernhardine Eickhoff, inspirierte ihn so nachhaltig, dass Heinrich, als ältester Sohn und Hoferbe am 15.5.1898 in Sallinghausen geboren, schon mit jungen Jahren das Gehörte niederschrieb. Im April 1917 wurde er zum Militärdienst einberufen, in einer Zeit, wo der erste Weltkrieg bereits voll entbrannt war. Seine Erlebnisse hat er in einem Kriegstagebuch niedergeschrieben. Glücklich dem Kriegsinferno entkommen, nutzte er die verbleibende Lebenszeit der Tante, sie starb 90jährig am 13. März 1924, um ihre Erinnerungen schriftlich festzuhalten.

Auch in späteren Jahren bis zu seinem plötzlichen Tode am 25.2.1966, frönte Heinrich Heymer ausgiebig seinem Hobby, der Hof- und Dorfgeschichte. Vielen Dorfbewohnern ist er noch heute als liebenswerter Zeitgenosse in Erinnerung geblieben. Sein waches Interesse am Dorfgeschehen ist durch seine immer wieder gestellte Frage verbrieft, die einigen noch in den Ohren klingt: „Nichts Nigges, Herr Nachbar?“. Wir Nachbarkinder fühlten uns nach Heymers hingezogen. Mit Herrn Heymer verbinden sich Erinnerungen an den Geschmack vom frischen Bienenhonig, den er als sachkundiger Imker selber schleuderte, an den würzigen Qualm, der aus einer seiner imposanten Porzellanpfeifen strömte, aber auch an das Erzählen von zahlreichen Geschichtchen, die er so beiläufig zum Besten gab. Wohl wissend, dass er damit Interesse wecken konnte. Fast ständig trug er Bleistift und Papier mit sich, um jeden Geistesblitz schwarz auf weiß festzuhalten. So sind aktenweise Aufzeichnungen und Ausschnitte aus Tageszeitungen seiner Zeit erhalten geblieben. Auf vergilbtem, meist ungeordnetem Papier finden sich zweifelsohne lesenswerte Beiträge, die darauf warten, neu aufgearbeitet und ergänzt zu werden.


Christine Koch, geborene Wüllner aus Herhagen
Christine Koch, geborene Wüllner aus Herhagen

              

                 „Meyne Baiker liät im Äskenspind,

                                                 meyne Laier singet biuten de Wind“.

 
Lyrik von Christine Koch, die den Großteil ihres Lebens eine heimliche Dichterin war und sich lange Zeit scheute, ihre schriftlich niedergelegten Gedanken zu veröffentlichen. Heinrich Heymer war kein heimlicher Schreiber. Er ging mit se inen Schriften unters Volk, stellte sie hier und da vor und suchte Unterstützung und Anregung.

Zweifelsohne gibt es auch hier und heute, in dieser Zeit,  unentdeckte Schreiber, aber auch lebenserfahrene Zeitgenossen, die Dönekes aus vergangenen Zeiten zum Besten geben können. Wer ist bereit, seinen Eschenschrank zu öffnen und dazu beizutragen durch seine ganz persönliche Überlieferung ein Stück Kultur wiederzubeleben ?