Demut und Dankbarkeit


Warum wir erntedank feiern sollten

Mein Aufsatz erschien zu Weihnachten 2022 im "Esselbote" Ausgabe 65, Seite 32

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(C) Wilhelm Feldmann

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Es ist Tradition, wenn im Herbst aus Ähren und mit dem Stroh der Getreidesorten Hafer, Gerste, Roggen und Weizen eine Erntekrone gebunden und mit bunten Bändern verziert wird. Die Altäre in den Kirchen werden mit den Gaben, die uns die Natur geschenkt hat, geschmückt. Damit bezeugen wir unseren Dank gegenüber dem Allmächtigen, weil die Saaten aufgegangen und die Früchte prächtig gediehen sind. 

Einst ein Ritual der Heiden

Bei der Hafer-Ernte: Die letzte  Garbe wird aufgeladen und der "Wiesebaum" wird aufgelegt und festgezogen, damit die kostbare Fracht unterwegs auf holprigen Wegen nicht verloren geht.
Bei der Hafer-Ernte: Die letzte Garbe wird aufgeladen und der "Wiesebaum" wird aufgelegt und festgezogen, damit die kostbare Fracht unterwegs auf holprigen Wegen nicht verloren geht.

Erntedank ist nicht allein ein Fest der Christen, die einst den Brauch aus heidnischer Zeit in ihre Rituale übernahmen. Auch andere Kulturen kennen seit Menschengedenken ihre Zeremonien, kultische oder religiöse Handlungen, mit denen sie ihre Bitten und ihre Dankpreisungen der Natur und/oder ihren Göttern gegenüber Ausdruck zu verleihen.  Erntefeste werden gefeiert, seit Menschen Ackerbau betreiben.  

Bei den Griechen war „Demeter“ ihr Gott des Erntesegens und die Germanen baten „Wotan“ um eine reiche Ernte und brachten ihm dazu ihre Opfergaben dar. Erst in christlicher Zeit entwickelten sich die Opferfeste zu Dankesfeiern. Gegen den gefürchteten Hagelschlag und den damit verbundenen Missernten und Hungersnöten versammelten sich im frühen Christentum bis zum Mittelalter die Gläubigen zu „Hagelfeiern“, einem sog. „Vigil“ um sich durch Fasten und Gebete auf einen besonderen Feiertag vorzubereiten. Doch verbunden wurden diese Feiern mit feucht fröhlichen Treiben in einer Zeit, die wenig Grund zur Entspannung und Unterhaltung hatte. Gleichwohl achtete die Obrigkeit auf den ungetrübten Arbeitseifer ihrer Untertanen. So wurden unter Erzbischof Josef Clemens von Köln (1688-1723) derlei Feiern bei Strafe verboten.  

"Harkemai", damals auf einem Hof im Sauerland

Ernte bei Isingheim: Das Getreide wird von den Frauen „aufgenommen“ und zu Garben gebunden. Diese werden zum Trocknen auf Haufen aufgestellt.
Ernte bei Isingheim: Das Getreide wird von den Frauen „aufgenommen“ und zu Garben gebunden. Diese werden zum Trocknen auf Haufen aufgestellt.

Der Sommer schickt sich an, Abschied zu nehmen.  Seit Tagen wird die Getreideernte eingefahren. Viele fleißige Hände beteiligen sich daran und bald steht alles unter „Dach und Fach“. Heute wird der letzte Erntewagen beladen. Auch die Kinder sammeln, so wie alle Helfer, die letzten liegengebliebenen Ähren mit hölzernen Harken auf. Nichts soll verderben und ungenutzt sein. „Harkemai“ nennt man diese letzte Fuhre, die nun mit einem Erntekranz, von den Mägden mit bunten Bändern kunstvoll gebunden, geschmückt wird. Pferde ziehen das Fuder gemächlich vom Stoppelfeld, von allen auf seinem Weg zum Gehöft begleitet. Es wird fröhlich gesungen und gescherzt, denn man ist froh, dass nun ein Stück schwere Arbeit getan ist. Über dem großen Deelentor findet nun der Erntekranz, gut sichtbar seinen Platz.  Alle sollen sehen, dass die Ernte eingefahren ist. Der Bauer spricht ein Dankgebet, bevor die Familie nebst Gesinde und allen Helfern an einem reich gedeckten Tisch Platz nehmen. 

 

Dreschen und Einmachen

Eine willkommene Pause beim Kartoffellesen. Es gibt falschen Kaffee, den "Muckefuck", trockenen Kuchen und Bütterckes, belegt mit Wurst, durchwachsenen Speck und Käse.
Eine willkommene Pause beim Kartoffellesen. Es gibt falschen Kaffee, den "Muckefuck", trockenen Kuchen und Bütterckes, belegt mit Wurst, durchwachsenen Speck und Käse.

Aus den Erntefeiern einzelner Höfe entwickelte sich später ein gemeinsames Fest für das ganze Dorf. Es fand aber recht spät, oft erst nach der Kartoffelernte Ende Oktober statt. Dann sind auch Obst und Gemüse „eingemacht“ und lagern haltbar für den späteren Verzehr in kühlen Kellergewölben. Und in der Scheune sind nun die Getreidegarben in Bansen hoch bis zum Dachfirst aufgeschichtet. Über den Winter hindurch, bis Mariä Lichtmess am 2. Februar, so ist es Brauch, werden sie nach und nach auf die Tenne geschafft. Eine schweißtreibende Arbeit steht dann den Männern bevor, die im Rund stehend ihre Dreschflegel im gleichmäßigen Takt auf die Garben sausen lassen. Das Korn wird gedroschen und später, wie es im übertragenen Sinne schon in der Bibel steht: „die Spreu vom Weizen getrennt“. Mit einer Wurfschaufel wird das Korn gegen den Wind und danach durch ein Sieb geworfen. Der „Kaff“, die Spelzen, Grannen und Stängel, trennen sich so vom wertvollen Getreidekorn. Es wird eine mühselige Arbeit werden, bevor das Korn zu Mehl und Schrot gemahlen ist, zum Brotbacken und als Futter für das Vieh. Auch lagert trockenes Brennholz im nahen Schuppen. Es soll Wärme geben und den Herd befeuern über einen langen und kalten Winter, dem die Menschen jetzt entgegensehen. 

Bitten und Danken

Erntearbeit bedeutete früher auch Gemeinsamkeit. Das Mähen war Männerarbeit und die Frauen "nahmen auf" und banden das Getreide zu Garben. Auch hier wurde Hafer gemäht.
Erntearbeit bedeutete früher auch Gemeinsamkeit. Das Mähen war Männerarbeit und die Frauen "nahmen auf" und banden das Getreide zu Garben. Auch hier wurde Hafer gemäht.

Die „Kornfeier“, war bis zum Mittelalter ein christliches Fest. Später irgendwann wurde es „Erntedankfest“ genannt. An diesem Tag treten tiefgläubige und gottesfürchtige Menschen in ihre Kirche ein. Voller Demut bringen sie ihre Gaben zum Altar, ein Ritus der an vorchristliche Opferfeste erinnert. Es sind die Früchte, die in diesem Jahr die Erde hervorbrachte und die sie ernten durften. Und dann beten sie zum Allmächtigen, voller Dankbarkeit aber auch fragend: „Ob ihre Ernte reichen wird zum Leben, zum Überleben?“ Die Gemeinde spricht Bittgebete und ein jeder hegt den alles überragenden Wunsch, dass Unheil von ihm und seiner Familie fernbleibe, denn Krankheit und Tod waren damals allgegenwärtig. 

Und es war nicht nur die Arbeit, die hart und beschwerlich war und an den Kräften der Menschen zehrte. Nach Unwettern mit Sturm und Hagelschlag, Dürren und Überschwemmungen wurde oft die ganze Jahresernte vernichtet. Missernten, aber auch Kriegswirren, stürzten die Menschen immer wieder in große Hungersnöte. Seuchen und Krankheiten waren die Folge und machten der körperlich geschwächten Bevölkerung arg zu schaffen. Der Glaube an Gottes Gnade und Wirken war für die Menschen Halt und Trost in schweren Zeiten.

Staatlich verordneter Dank für die "Erzeugerschlacht"

In den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde es hingegen staatlich verordnet, das Erntedankfest mit Umzügen auf den Straßen zu begehen. Mit der Machtübernahme der NSDAP im Jahre 1933 wurde das bislang christlich geprägte Fest zu einem Staatsfeiertag erklärt, zum „Tag des deutschen Bauern“. Den wenigsten war bewusst, dass es dem Regime hauptsächlich um Selbstdarstellung und Propaganda ging. Auch in Eslohe beteiligte sich die Bevölkerung an diesen Umzügen. Mit viel Liebe zum Detail wurden die Erntewagen der Bauern mit Kränzen aus Eichenlaub und Fichtengrün hergerichtet und das Hakenkreuz wurde zum wichtigsten Requisit an jedem Festwagen. Auch die Reiter des örtlichen Zucht-, Reit- und Fahrvereins, nun zum „SA-Reitersturm“ umbenannt, wurden zur Teilnahme an den Umzügen zum Erntedankfest verpflichtet. Auf Anweisung des Reichsbauernführers Darre' wurde das kirchliche Fest des Dankes zu einer Darstellungsschau für den Reichsnährstand. 

 

Im ehemaligen Amt Eslohe fanden ab 1933 und in den folgenden Jahren große Erntedankfeiern statt, in deren Mittelpunkt öffentliche Umzüge, Festansprachen des Ortsgruppenleiters oder Kreisbauernführers sowie Darbietungen und Tanz standen. Daran beteiligten sich nicht nur die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung, auch das Handwerk nahm aktiv Anteil daran. „Die deutsche Schmiede“ stand 1935 an einem Festwagen aus Sallinghausen und mit klingenden Hammerschlägen auf dem mitgeführten Amboss zog ein lustiges Völkchen in Richtung Niedersalwey. Die Westfälische Landeszeitung berichtete am 8.10.1935 von diesem Ereignis: „Niedersalwey: Die Volksgenossenschaften der Ortschaften des Amtes Eslohe feierten den Erntedanktag in Niedersalwey. Der Festzug bewegte sich von Niedersalwey über Kückelheim nach Sieperting, wo sich die Teilnehmer von Eslohe, Nieder-Eslohe und Isingheim anschlossen; von dort ging es über Obersalwey nach Niedersalwey zum Woiler Hof zurück. Hier war ein großes Festzelt aufgeschlagen worden, in welchem sich die weitere Vereinsstellungsfolge abwickelte.“ 

Bilder vom  Erntedank-Umzug 1935, an dem auch Festwagen aus Sallinghausen teilnahmen. 


„Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land“

Dann war Krieg, und nach Ende des „Dritten Reiches“ im Jahre 1945 musste das öffentliche Leben erst wieder geordnet werden. Deutschland lag politisch und wirtschaftlich am Boden. Die Kirche aber stand noch fest und unerschütterlich nach dem Wort des Herrn: „…auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“. So begründete sich schon bald überall die „Katholische Landjugendbewegung“. Aus dieser keimte neues Denken und man besann sich bereits Anfang der 50er Jahre auf die Tradition der Erntedankumzüge, jedoch unter anderem Vorzeichen. Das Hakenkreuz war verbannt. An dessen Stelle trat das Logo der Bewegung mit Christenkreuz und Pflug und das Motto lautete: „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land“. Es sollte das Untere nach oben gekehrt und guter Samen aufgehen, der zu Frieden und Wohlstand erblüht. 

 

Auch im Amt Eslohe fand im Jahre 1957 ein Umzug zu Erntedank statt. Initiiert von jungen Landmenschen, die vergessen und mit Zuversicht in die Zukunft schauen wollten, zogen wohl zum letzten Mal mehrere geschmückte Wagen, von Pferden gezogen, durch Eslohes Straßen. Viele Zuschauer am Straßenrand verfolgten das heitere Treiben, an dem sich auch die Bauern aus den umliegenden Dörfern beteiligten. Der Chronist ist Zeitzeuge: Zusammen mit meiner Mutter stand er als dreijähriger Bursche in Lederhose und Mütze auf dem Kopf an der alten St. Isidor – Kapelle in Eslohe und schaute dem frohen Treiben zu. Die Erinnerung an dieses Erlebnis ist schwach, wurde aber mit Blick auf die vorhandenen Fotos und den Erzählungen der Eltern wieder lebendig: 

 

Die Ernte an Feldfrüchten war 1957 im Allgemeinen gut, nur das Einbringen war wegen vieler Niederschläge sehr erschwert. Die Obsternte fiel gänzlich aus. Um das Heu vor dem Verderben zu retten, musste es zum Nachtrocknen auf Heuböcke gesetzt werden. Diesem Umstand wegen bauten die Sallinghauser auf einen einachsigen Wagen einen Heubock nach. Einige Männer, darunter mein Vater Otto, der sich diesen Spaß nicht entgehen lassen wollte, fanden darunter Platz. Sie hatten ordentlich Zigarren geraucht, bis der Tabakdampf zur Heiterkeit der Zuschauer durch alle Ritzen zog. Damit wollten sie einen Heubock nachahmen, der durch vom Regen durchnässtes Heu, dampfend auf der Wiese steht. 

Bilder vom Erntedankfest 1957: Gezogen von ihren Ackerpferden zogen die Bauern des Amtes mit ihren prächtig geschmückten Wagen durch Eslohe. Die Fotos zeigen, wie der Festzug die St. Isidor-Kapelle in Niedereslohe passiert. Diese befand sich damals auf der Straßenkreuzung Homertstraße zur Kupferstraße und wurde 1979 abgerissen und an anderer Stelle wieder neu aufgebaut. Als dreijähriger Knirps habe ich mit meiner Mutter dem Festzug zugeschaut, während Vater mit den Nachbarn auf dem mitgeführten Wagen großen Spaß hatte. 


Und was bedeutet heute Erntedank?

Hier wird die Sau durchs Dorf gefahren. Ein Festwagen zum Erntedank, irgendwann und irgendwo in Westfalen
Hier wird die Sau durchs Dorf gefahren. Ein Festwagen zum Erntedank, irgendwann und irgendwo in Westfalen

Aus der Blickweise unserer Vorfahren leben wir in unserer Welt wie im „Schlaraffenland“, da alles im Übermaß erscheint. Wir gehen mit einer Selbstverständlichkeit davon aus, dass stets mehr als ausreichend und für jedermann erschwinglich, für den Konsum bereitsteht. Ungläubig standen wir jüngst vor leeren Regalen, als Panikkäufe Mehl und Speiseöl verknappen ließen. Da wurde vielen erst wieder bewusst, wie anfällig und von vielen Faktoren unser Leben abhängig ist. 

 

Die Unbilden des Wetters, der offensichtliche Klimawandel an dem der Mensch ursächlich beteiligt ist, schafft unvorhersehbare Unwägbarkeiten. Unwetter, Dürren, Schädlingsbefall und vielerlei Naturkatastrophen vernichten die Ernte ganzer Landstriche. Die Natur zeigt dem Menschen seine Grenzen auf und macht ihm einmal mehr bewusst, dass er Teil derselben ist. Sie fordert mehr Demut von uns. Schon Albert Schweizer sah darin eine verloren gegangene Fähigkeit der Menschen, auch zu den kleinsten Dingen des Lebens bewundernd aufschauen zu können. 

 

Egoistische Entwicklungen in unserer Gesellschaft führen dazu, dass immer weniger Boden dem Anbau von Feldfrüchten dienen. Wertvolle Ressourcen gehen durch intensive Flächenbebauungen endgültig verloren. Auch die Landwirtschaft selbst schafft mit dem intensiven Anbau von Monokulturen und Überdüngungen fragwürdige Voraussetzungen für eine dauerhafte Nutzung der Böden. Flächen, die dem Anbau von Pflanzen für die Energiegewinnung dienen, werden der Erzeugung wertvoller Lebensmittel entzogen. 

 

Alles das sollte hinterfragt werden, gerade am Tag des Erntedankfestes, denn dessen Sinn ist auch heute nicht verfehlt. Dankbarkeit sollten wir verspüren, für das, was wir heute als selbstverständlich empfinden. Der „moderne Mensch“, dessen tägliche Mühen überwiegend nicht mehr der Nahrungserzeugung dient, sollte sich zurückbesinnen auf die Zeiten des Mangels. Das Gedächtnis des Menschen greift zu kurz, wenn er die Geschichte seiner Vorväter nicht beachtet, in deren Zeiten der Hunger und die Not eher üblich war und wo seltener Überfluss als ein besonderes Geschenk der Schöpfung empfunden wurde. Demut und Dankbarkeit.